Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Hannele Groos’ Nummer. Er presste den Hörer so fest ans Ohr, dass es knackte. Nun war es so weit, Schwellen und Grenzen waren überschritten. Groos meldete sich nicht, was absolut lächerlich war, denn diesmal hätte er tatsächlich etwas zu berichten gehabt, etwas anderes als medikamentöse Verstopfung, Weinkrämpfe, Recht auf Arbeitstherapie, Pausenraumkonflikte, Blut im Urin.
Keine Antwort.
Mikael betrachtete den Alarmknopf rechts neben der Tür. Er warf den Hörer auf die Gabel und streckte die Hand aus. Da spürte er eine leichte Berührung an der Wange. Wie eine Feder. Eine vertraute Berührung.
Hinter dem Fenster, im Zwielicht des Aufenthaltsraums, stand jemand, ganz nah.
Mikael erstarrte, wollte aber nicht hinsehen. Ein Geheimnis, das unmittelbar vor seiner Nase gelegen hatte, war im Begriff, enthüllt zu werden, es suchte seine Nähe wie ein liebesbedürftiger Aussätziger. Daran hatte er keinen Bedarf. Viel, viel, viel lieber wollte er dem zielstrebigen Summen der Neonröhren lauschen und Alarm auslösen und einen Krankenwagen und die Polizei rufen und alles so erzählen, wie man bei Tageslicht eben erzählte, wie es verständlich war. Er würde seine Kooperationsbereitschaftzusichern, hätte Mitgefühl mit den Kindern des Opfers, würde zusammenbrechen wie ein Mensch, nicht wie ein Tier.
Aber natürlich sah er hin.
Die Frau im roten Kleid war blass. Ihre Haare waren dicht, zerzaust, glänzend. Natürlich, denn die Krankheit war noch nicht ausgebrochen, keine Therapie, kein Erbrechen, keine Vorwürfe.
»Was machst du hier?«, fragte Mikael.
Sein Atem ließ die Scheibe für einen verschwindend kurzen Moment beschlagen. Schwindelgefühl. Schaukeln.
Saana antwortete nicht. Sie stand nur da und schaute.
42
Hannele Groos öffnete die Tür zu Station A nach drei Uhr. Sie hatte gelernt, die Operation schnell durchzuführen, wie ein Berufssoldat. Den Schlüssel ins Schloss, schnelle Umdrehung, dann zum Schloss des Stationszimmers (acht Schritte), bevor die Eingangstür zufiel.
Sie war jetzt gut eine Minute ungestört, und wenn sie zügig handelte, reichte das völlig aus. Nach zwei Uhr hatten die Kollegen vom Nachtdienst längst genug voneinander und hockten jeder für sich in seinem Flügel. Das Geräusch der Tür schreckte sie auf, aber im Nachtdienst ging alles wie in Zeitlupe vor sich. Und bei den Pflegern auf Station A war es am leichtesten, sie rechneten nicht ständig mit dem Schlimmsten, bewegten sich gemächlicher. Groos hoffte, dass sich daran trotz der Vorfälle der letzten Tage nichts geändert hatte.
Der Medizinschrank war eine Leichtigkeit. Wenn sie nur daran dachte, die Tür hinter sich ins Schloss zu ziehen, brauchte sie sich wegen des Geräuschs keine Sorgen zu machen. Das Gefährlichste war der nächste Schritt, das Öffnen der Dose und das Herausfischen der winzigen Pillen. Dabei musste sie aufpassen, sonst rollten die Tabletten auf den Boden. Nach dem ersten Missgeschick hatte Groos ihre Lektion gelernt.
Wenn die Sache erledigt war und die Kollegen vom Nachtdienst kamen, sahen sie nur die Chefärztin, die in den Patientenakten blätterte. Selbst wenn jemand mitbekäme, dass sie hinter dem Regal hervorkam, aus der Ecke, in der der Medizinschrank stand, würde er keinen Verdacht schöpfen. AutiosAnspielungen auf verschwundene Medikamente und seltsame Eintragungen auf den Arzneikarten waren eine Lapalie im Ozean der Dienstverstöße, den er selbst mit seinem nachlässigen Führungsstil geschaffen hatte. Füße auf dem Schreibtisch, das Besteck nicht abgezählt, die Beschwerden der Kollegen über Stefan Levander seit Jahren unbeachtet. Und so einer hatte die Stirn, sich aufzuplustern, nur weil seine Nase ein wenig blutete.
Groos ließ die Pillen geduldig in ihre Hand fallen, ohne sich zu beeilen, schloss dann aber rasch die Dose und den Medizinschrank, mit einer einzigen, fließenden Bewegung. Es war noch immer nichts zu hören, sie hatte also genug Zeit. Auf die Arzneikarte schrieb sie diesmal nichts. Gegebenenfalls würde sie sich mit Autio darüber unterhalten, wieso es nur auf seiner Station Probleme mit der Registrierung der ausgegebenen Medikamente gab.
Groos summte leise vor sich hin, keine bestimmte Melodie. Das beruhigte, versetzte sie in die geeignete Stimmung für den kommenden Wortwechsel. Sie hatte auch in jener Nacht vor knapp einer Woche gesummt, als sie aus dem Umkleideraum im Keller nach oben gegangen war, direkt auf Station D, wo sie mit den Kollegen vom
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