Leise weht der Wind der Vergangenheit
Schließlich hatte ihr der Arzt eindringlich aufgetragen, Anne nicht aufzuregen. Ihre ohnehin ziemlich angeschlagene Gesundheit litt bei jedem Hustenanfall, den jegliche Aufregung unweigerlich nach sich zog.
„Entschuldige bitte, Annie", bat sie zerknirscht. „Ich... hätte das nicht sagen dürfen. Es klang nur im Augenblick fast wie Frevel in meinen Ohren, wie du zu deiner Puppe Mami gesagt hast. Unsere Mutter hat ganz anders ausgesehen.“
„Aber ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern", klagte das Mädchen. „Selbst wenn ich die Augen ganz fest zumache sehe ich sie nur als Ganzes vor mir. Sie hat Beine, Arme und einen Körper. Aber sie hat kein Gesicht mehr. Deshalb denke ich manchmal, Britta..." Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
„Ich verstehe ohnehin nicht, wie du deine Puppe ausgerechnet Britta nennen konntest. Einen ausgefalleneren Namen hast du dir wohl nicht suchen können." Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr, seit Anne diese Puppe auf dem Flohmarkt entdeckt und auch gleich erstanden hatte, gab Mary zu, das Spielzeug nicht ausstehen zu können.
Doch Anne hatte ihren Schrecken inzwischen überwunden. Jetzt saß die Puppe Britta wieder auf ihrem Schoß, und die beiden Porzellanhändchen lagen auf dem Arm des Mädchens, als wollten sie sie mit letzter Kraft festhalten. Das hübsche Gesicht hatte die Puppe zu Anne gewandt und blickte ihr gerade in die Augen. Für einem Moment lang sah es so aus, als würde sich der rot geschminkte Mund zu einem zärtlichen Lächeln verziehen.
Forschend blickte Anne zu ihrer Schwester, und als sie merkte, dass diese sich auf die ziemlich schlechte Strasse konzentrieren musste, gab sie Britta einen zärtlichen Kuss auf die Wange. „Sie meint es nicht so", flüsterte sie ihr zu und drückte sie für einen Moment lang an sich.
Mary schaltete den Gang herunter. Die ganze Zeit über hatte sie sich auf ihre kleine Schwester eingestellt, sich um ihr Wohlbefinden gesorgt und sich bemüht, es ihr so angenehm wie nur möglich zu machen. Jetzt jedoch, da sich ihre Reise dem Ende näherte gönnte sie sich auch ein wenig Zeit für sich selbst. Sie konnte sich gar nicht satt sehen an der herrlichen Landschaft, die sich vor ihr auftat.
„Unsere neue Heimat, Darling", sagte sie und warf nur einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Annes Kopf war ein wenig zur Seite gekippt, ihre Augen hatte sie geschlossen. Offensichtlich war sie eingeschlafen, denn die Reise von mehr als vierhundert Kilometern war doch ziemlich anstrengend gewesen für das Mädchen.
Schon zeitig in der Frühe waren sie mit dem vollgepackten Kombi losgefahren. Alle Dinge, die sie am dringendsten brauchen würden in der ersten Zeit, hatte Mary sorgfältig im Kofferraum verstaut. Das hübsche Einfamilienhaus im Innern des Landes, das Mary und Anne von ihren Eltern geerbt hatten, hatte Mary schweren Herzens einem Makler zur Verwaltung und zum Vermieten überlassen. Vielleicht würden sie ja eines Tages wieder zurückkehren, wenn Anne sich soweit erholt hatte, dass sie die trockene Luft wieder vertragen konnte.
Mary seufzte auf. Nie hätte sie gedacht, dass sich ihr Leben in ganz anderen Bahnen bewegen würde als sie geplant hatte. In der Nähe von Longford hatte sie eine gutbezahlte Stelle als Lehrerin für Geschichte und Biologie bekommen, die ihr sehr viel Freude gemacht hatte. Dann waren die Eltern bei einem Eisenbahnunglück vor drei Jahren ums Leben gekommen, und sowohl Mary als auch Anne hatten von einem Augenblick zum anderen den Boden unter den Füßen verloren.
Zwar hatte Mary versucht, der kleinen Schwester die Nestwärme zu erhalten, obwohl sie eigentlich selbst auch dringend Zuspruch benötigt hätte, doch ob ihr das auch geglückt war wusste sie nicht.
„Ist es nicht herrlich hier?“, fragte die junge Frau aus ihren Gedanken heraus. Sie hatte gemerkt, dass sie kaum mehr die aufsteigenden Tränen zurückhalten konnte. Und gerade das durfte sie ihrer Schwester nicht zumuten, dass sie sie weinen sah. Anne war sehr sensibel. Sie brauchte die große Schwester als Halt und Stütze, denn ihre schlimme Krankheit war mehr als genug Belastung für das Kind.
„Ach Mary, ich weiß nicht, ob es gut war, dass wir alle Zelte hinter uns abgebrochen haben", überlegte Anne und machte ein besorgtes Gesicht. „Hier gibt es kaum Häuser, und vor dem Meer hab ich Angst." Ihre noch kindliche Stimme klang ängstlich. „Du wirst doch von mir
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