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Leise weht der Wind der Vergangenheit

Leise weht der Wind der Vergangenheit

Titel: Leise weht der Wind der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarit Graham
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taumelte zur Tür und riss sie auf.
       Der Sturm war stärker geworden in den letzten Minuten. Doch das störte Gregory Simpson nicht. Wie ein wilder Stier
    rannte er davon in die Nacht hinein. Dabei rief er immer nur die beiden Namen Annabel und Belinda. Doch niemand antwortete ihm.
       Dann war er an den Klippen angelangt. Endlich blieb er stehen und schaute sich um. „Annabel." Er sagte es ganz leise, unsicher, und in seinen Augen flackerte Angst. In seinen Ohren war plötzlich der schwermütige Klang einer Flöte, ein Lied, das er gut kannte und wohl schon hundert mal selbst gespielt hatte.
       Damals.
       Der Mond stand in seiner ganzen Schönheit am Himmel, der Sturm hatte alle Wolken vertrieben. Gespenstische Schatten huschten über den Boden und in dem niedrigen Gesträuch raschelte es leise. Noch immer erklang das Lied der einsamen Flöte.
       Vorsichtig hob Gregory das Gesicht und starrte zu den Klippen. Und das, was er sah, ließ sein Blut in den Adern gefrieren. Graziös, als hätten sie nie etwas anderes getan, tanzten zwei Mädchen im Schein des Mondes auf den bizarren Felsen zu einer traurigen Melodie. Ihre hellen Kleidchen hoben sich auffallend gegen den dunklen Hintergrund ab, als würde eine helle Lampe sie beleuchten.
       „Nein!" Gregorys gellender Schrei zerriss die kalte Nachtluft. Stöhnend warf sich der Mann auf die Erde, und er merkte nicht einmal, wie sich die spitzen Steine in sein Fleisch stachen. Sein Körper wurde von Schluchzen geschüttelt.
       Eilig versteckte sich der Mond hinter einer Wolke. Nur die beiden Mädchen tanzten selbstvergessen zu einer Melodie, die nur sie hören konnten, einem Lied, das die Ewigkeit geboren hatte.
                            * * *
       „Wie fühlst du dich, Annie? Glaubst du, dass du den Rest der Fahrt an einem Stück schaffen kannst?" Besorgt blickte Mary McCarson in den Rückspiegel ihres Kombis. „Die Schachtel mit den Tabletten liegt neben dir. Wenn es gar nicht anders geht, dann nimm eine.“
       Das elfjährige Mädchen schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Sorgen um mich, Mary", antwortete es und wirkte in diesem Moment schon richtig erwachsen. „Ich fühle mich sehr wohl. Manchmal glaube ich, dass ich die Seeluft schon fast riechen kann." Fest presste Anne ihre schwarzhaarige Puppe an sich, die fast ein wenig Ähnlichkeit mit ihr selbst hatte.
       „Sollen wir nicht doch lieber eine kleine Rast machen?" Schon eine ganze Weile hielt Mary nach einem geeigneten Platz Ausschau, an dem sie kurz anhalten konnte. Anne sollte ebenfalls aussteigen und sich ein wenig an der frischen Luft bewegen. Das war für ihre Erkrankung unbedingt nötig, dass sie stets genügend Sauerstoff bekam.
       „Ich mag mich jetzt nicht bewegen, Mary", kam die freundliche Antwort aus dem Fond des Wagens. „Hättest du mich nicht angesprochen, dann wäre ich gleich eingeschlafen. Ich habe eben geträumt, Britta sei gewachsen und gewachsen, bis sie größer war als ich. Auf einmal war sie eine erwachsene Frau und sie behauptete, meine Mutter zu sein.“
       Mary lachte ein wenig gekünstelt. „So ein Unsinn", sagte sie leise. „Doch so ist das mit Träumen. Manche Leute behaupten, sie würden die Zukunft voraussagen können, wieder andere meinen, der Mensch müsse unverarbeitete Erlebnisse im Traum bewältigen, und wieder andere sind überzeugt davon, dass man in manchen Träumen Bilder aus einem früheren Leben sehen kann.“
       „Wer weiß, Mary", sagte Anne nachdenklich, „welche Dinge es gibt zwischen Himmel und Erde. Vielleicht war Britta früher einmal wirklich meine Mutter." Ein wenig unsicher lachte das Mädchen und hielt seine Puppe so hoch, dass sie nach oben schauen musste, um ihr ins Gesicht sehen zu können. „Hallo Mami", sagte sie und lachte erneut, „freust du dich, dass wir nach Ronaldsburgh fahren?“
       „Lass den Unsinn, Anne", fuhr Mary zornig auf. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie auf einmal so heftig reagiert hatte. „Das ist eine Puppe, ein lebloses Etwas. Ich glaube nicht, dass unsere arme Mutter für deinen etwas seltsamen Humor Verständnis hätte.“
       Erschrocken warf Anne die Puppe auf den Sitz. Tränen stiegen in ihre Augen, sie konnte nur mit Mühe ein Schluchzen unterdrücken. „Du... hast recht, Mary", gab sie unglücklich zu. „Ich hätte das nicht sagen dürfen.“
       Mary war zornig auf sich selbst, weil sie ihre kleine Schwester zum Weinen gebracht hatte.

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