Lemmings Zorn
gefragt.
«Ich war schon einmal dabei … bei einer Geburt.»
«Und Sie selbst? Haben Sie keine Kinder?»
«Nicht, dass Sie das missverstehen», hat Angela Lehner geantwortet. «Aber ich hab ja jetzt … Ihres.» Und ihr herzlicher, dankbarer Blick hat alles Befremdliche von ihren Worten gewischt.
Sobald dann der erste, zaghafte Klagelaut Benjamins aus dem ersten Stock ertönte, ging eine jähe Verwandlung mit dem roten Engel vor. Er horchte auf und lauschte und begann zu strahlen, er breitete die Flügel aus und öffnete sein Herz. Meistens stand Angela Lehner schon beim Treppenabsatz, wenn Klara mit dem Kleinen auf dem Arm herunterkam. Ihre Augen leuchteten Ben entgegen, und Bens Augen leuchteten zurück. Selbst wenn ihn schon wieder der Hunger plagte und er der widrigen Welt mit verweintem Gesicht sein Leid entgegengreinte: Kaum, dass er die hagere Frau mit den fuchsroten Haaren erblickt hatte, huschte ein Lächeln über seine Lippen.
Benjamin hat es – noch vor seinen Eltern – begriffen: Angela Lehner ist einer der seltenen Menschen, die man lieben kann, auch ohne etwas über sie zu wissen. Ähnlich einem Musikstück, das man auch dann zu genießen vermag, wenn man den Komponisten nicht kennt.
Und so ist es irgendwann dazu gekommen, dass Klara und der Lemming Brüderschaft mit dem Engel getrunken haben – Klara bei einer Tasse Stilltee, die anderen zwei bei einem Achtel Wein.
«Prost, Angela, ich bin der Poldi.» Gläserklirren. Castro hat leise gebrummt und die Ohren gespitzt, Ben dagegen hat seelenruhig weitergeschlafen, eingerollt in Morpheus’ Armen und im Schoß des Lemming.
«Leopold … Das hätt mir damals auch gefallen», hat Angela Lehner nach einer Weile gedankenverloren gemurmelt.
«Du meinst … statt Benjamin?»
«Ja … Ja, genau.»
«Ich weiß nicht. Leopold bedeutet so viel wie
der Kühne aus dem Volk
. Und jetzt schau dir an, was aus mir geworden ist: ein Schnullerkombattant und Windeldesperado, der Inbegriff eines wackeren Volkshelden, oder?»
«Du brauchst gar nicht so zu grinsen.» Angela kämpfte nun selbst mit einem Schmunzeln. «Ich finde, die Welt könnte mehr solche Helden vertragen.»
«Amen», hat Klara ihr beigestimmt.
«Trotzdem ist mir der
Sohn des Glücks
lieber.» Der Lemming hat sich zu Ben hinuntergebeugt, um ihm einen Kuss auf den schütteren Scheitel zu drücken. «Der ist seinem Namen schon jetzt mehr als gerecht geworden …»
Wahrhaftig: eine Zeit der Liebe und des Lachens.
Überhaupt Benjamin.
Die ersten sechs Monate sind ein einziger süßer Schmerz für den Lemming gewesen. Wenn er morgens von der Arbeit heimkam und im ersten Dämmerlicht das Haus betrat, klopfte sein Herz wie das eines frisch Verliebten. Er schlich jedes Mal geradewegs ins Schlafzimmer, um Ben zu betrachten. Dann saß er da und vertiefte sich – Stunde um Stunde – in den Anblick seines Sohnes. Und immer konnte es nur eine flüchtige Linderung sein: Sobald er mittags alleine im Bett erwachte, war die unstillbare Sehnsucht wieder da. Der Lemming war süchtig, er konnte sich einfach nicht satt sehen an Ben.
Und wie denn auch.
Es ist schon unglaublich, was ein paar Kilo Mensch zu leisten vermögen, um sich Tag für Tag aufs Neue interessant zu machen. Von der stetigen Entfaltung des zerknitterten Gesichts bis hin zum ersten Lächeln des zahnlosen Mundes bot Ben eine endlose Folge verblüffender Attraktionen. Er spiegelte die Welt im selben Ausmaß wider, in dem er sie aufsaugte – und das tat er in atemberaubendem Tempo. Beispielsweise,wenn er – von verschlagenen Winden geplagt – in gellendes Kreischen ausbrach: Schon nach wenigen Wochen suchte er in seinem Schmerz den Blick des Lemming, und seine ungeübten Lippen fingen an, Konsonanten zu formen, also den Jammer zu artikulieren. Er schrie und er weinte, aber er nahm auch Kontakt auf, er teilte sich mit. So gab es täglich etwas Neues zu bestaunen: das Jauchzen und Mitkrächzen, wenn er Musik hörte, oder das genüssliche Gestrampel, wenn er – seiner Windel entledigt – ins handwarme Wasser des Waschbeckens getaucht wurde. «Ben kann schon …», das wurde zur ständigen Floskel zwischen Klara und dem Lemming. «Ben kann seinen Kopf schon halten.» – «Ben kann sich schon auf den Rücken drehen.» – «Ben kann schon nach der Rassel greifen.» Es war ein stetiges, ein pausenloses Lernen, und die Brennpunkte dieses Lernens, die Schnittstellen zwischen Bens Innen und Außen, waren seine großen
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