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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Meine Frau und ich, wir haben ein kleines Baby daheim. Wir brauchen unseren Schlaf, verstehen Sie? Und jetzt dieser Krach, da kriegt keiner ein Auge zu, völlig unmöglich. Allein diese Stöße, diese Erschütterungen, das ist ja wie ein   … wie ein   …»
    «Presslufthammer», vollendet der andere den Satz. «Schafft zweitausend Schlagzahl, das Burli. Soll i vielleicht einen Zahnstocher nehmen? I kann ja auch nix   …»
    «Moment!», unterbricht ihn der Lemming. «Lassen S’ mich raten, ich weiß nämlich schon, was jetzt kommt: Sie können ja auch nichts dafür, Sie tun schließlich nur Ihre Arbeit, die Entscheidungen werden woanders getroffen, stimmt’s?»
    «Stimmt haargenau. Oder stimmt’s vielleicht net?»
    «Es   … Ja, natürlich   … Sicher stimmt’s   …» Eigentor, Lemming. Schon ist es passiert. Wie soll man aber auch ein Match für sich entscheiden, in dem man von vornherein chancenlos war? Wie soll man sich wehren gegen ungreifbare Mächte, gegen namenlose Kader, kurz: gegen die Obrigkeit? Die einzige Trophäe, die einem hier winkt, ist die Urne, in der man seinen Stolz begraben kann. Und deshalb schickt sich der Lemming nun an, zum geordneten Rückzug zu blasen.
    «Können S’ mir wenigstens sagen, wie lang das noch gehen soll? Die Arbeiten, mein ich.»
    «Für unsereins bis in der Früh. Um sechse werden wir ab’glöst, da kommt die neue Schicht, weil morgen geht’s tagsüber auch noch weiter   …»
    «Wie? Am Weihnachtstag?»
    «Extra für Sie, damit’s Ihnen net anschei   … net aufregen müssen wegen der Nachtarbeit.» Ein hämisches Lachen: Verhöhnung des Gegners. Der Champion kostet ihn aus, den Triumph. «Nix für ungut, kleiner Scherz», fügt er gnädig hinzu. «Z’ Weihnachten is nämlich eh fast nix los auf der Straßen.Morgen is dann Schluss, dann haben S’ Ihren heiligen Frieden. Bis z’ Mittag sollten wir fertig sein, aber nur, wenn S’ uns jetzt in Ruhe arbeiten lassen.»
    «In Ruhe? In   …
Ruhe

    Der Lemming ringt die Hände, dreht sich wortlos um und geht. Nach wenigen Schritten vernimmt er noch einmal die Stimme des gelbroten Mannes in seinem Rücken: «Wie schön die Welt ohne Anrainer wär!» Dann setzt wieder das Rattern des Meißels ein.
     
    «Ich liebe euch.» Leise hat das der Lemming gesagt und verträumt; er hat mehr zu sich selbst als zu Klara und Ben gesprochen. In der frostklaren Luft dieses frühen Abends aber sind seine Worte ganz deutlich zu hören gewesen. Klara bleibt stehen. Zieht ihn an sich und küsst ihn, begierig und lange. Zwischen ihnen, an der Brust des Lemming, baumelt Ben in seinem Tragesack. Fest verpackt ist der Kleine, mit dicken Pullovern und Decken vermummt. Der Kuss interessiert ihn nicht weiter. Gebannt betrachtet er die Atemwölkchen, die seinem Mund entweichen. Weiß sind sie, beinahe so weiß wie die Bäume, die Häuser, die Welt. Ein glitzernder, schöner und vollkommen unverständlicher Traum.
    «Frohe Weihnachten, Poldi.»
    «Dir auch. Ich glaub, ich hab sie schon.»
    Es hat zu schneien begonnen heut Mittag. Wie um es allen Beteiligten recht zu machen, haben die Wettergötter den Winter erst gegen halb zwölf aus dem Käfig gelassen, als sich die Straßenarbeiten dem Ende zuneigten. Ein heftiger Wind hat die Kälte gebracht, und kaum, dass die Arbeiter ihre Geräte zusammengerafft und die – notdürftig wieder versiegelte – Straße verlassen haben, ist auch der Schnee gekommen. Tief und grau war auf einmal der Himmel, durchwirbelt vom dichten Gestöber der Flocken. Nicht lange, und der Wind hat nachgelassen, hat Platz gemacht für das Flüsternund Rauschen, für das kaum hörbare Knistern des Schneetreibens. Winterstille.
    Später kamen zwei Krähen, schwarz und zerrupft, die sind durch den Garten gehüpft wie zwei nervöse Dorfpfarrer. Ihr heiseres Krächzen klang wie ein Abgesang auf das sterbende Jahr. Durch die beschlagenen Scheiben der Küche hat Ben die beiden entdeckt, und er hat mit begeistertem Quietschen signalisiert, dass er – und zwar sofort! – auf einem Spaziergang bestand.
    «Gute Idee», hat der Lemming gebrummt und mit spitzen Fingern den letzten Rest der Füllung in die Ente gedrückt. Semmelwürfel, Milch und Eier, mit Speck und Rosinen vermischt. In der Kasserolle wartete schon ein behagliches Nest auf den Vogel: Karotten und Edelkastanien, die im Geflügelsaft mitschmoren würden: ein Weihnachtsgedicht.
    «Ja», hat auch Klara gegähnt. «Das muntert uns vielleicht ein bissel auf

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