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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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nach der versauten Nacht   …»
    Zwei Stunden sind sie jetzt schon unterwegs, die flaumige Schneedecke unter den Sohlen, das leise Knirschen der Schritte im Ohr. Durchs Dämmerlicht schimmern schon matt die Laternen, von Eiskristallen umtanzt wie von winterlichen Insekten.
    «Wollen wir langsam zurück? Der Herr hier und ich», der Lemming klopft auf Benjamins baumelndes Hinterteil, «wir verscheuchen sonst noch das Christkind mit unseren knurrenden Mägen.»
    «Machen wir das. Es wird sowieso schon finster. Castro! Komm!»
    Aus dem Halbdunkel löst sich ein Schatten: Mit tief gesenkter Schnauze pflügt Castro heran. Kurz bleibt er stehen und niest und schüttelt sich schnaubend den Schnee aus dem Fell, dann aber läuft er mit wedelndem Schwanz auf Klara zu.
    Jeder Abend des Jahres, denkt der Lemming, sollte so heilig sein wie dieser. Und jede Nacht so still. Jetzt noch die Kerzenauf dem kleinen, windschiefen Christbaum entzünden, um Bens erstes Weihnachtsfest gebührend zu feiern, danach die Ente aus dem Rohr, dampfend und duftend und knusprig, dazu eine Flasche Burgunder, und dann ins warme Bett. Träumen, kuscheln, lange schlafen. Die pure Gemütlichkeit.
    Während sich der Lemming mit zufriedenem Lächeln die geplante Bescherung ausmalt, werden mit einem Mal Urwaldgeräusche laut: Affengeschnatter und Löwengebrüll, vom schrillen Trompeten eines Elefanten untermalt. Castro spitzt die Ohren, Klara aber zieht stirnrunzelnd ihr Handy aus der Jackentasche.
    «Hallo?   … Ja, ich bin am Apparat   … Was heißt   … Das glaub ich Ihnen schon, nur   … Aber heut hat der Kollege Böhm Bereitscha   … Wie? Was soll das heißen, nicht erreichbar?   … Und am Festnetz?   … Herrschaftsseiten, dieses Arsch   … Und was ist mit dem Lobmeyer?   … In Tirol, natürlich   … Ja, mir tut’s auch leid, das können S’ mir glauben!» Klara schüttelt wütend den Kopf. Sie atmet zwei-, dreimal tief durch, bevor sie weiterspricht. «Beschreiben S’ mir einmal, was hat sie denn?   … Aha   … Aha   … Und schreit wie am Spieß?   … Nein, da kann man nicht warten, da muss man was machen, sofort   … Natürlich ist das nicht Ihre Schuld, Sie haben ganz richtig   … Ja, in einer halben Stunde zirka   … Gut, bis dann.»
    Klara steckt das Handy ein und sieht den Lemming traurig an. «Der Böhm, dieser Drecksack», sagt sie leise. «Dabei hab ich schon vor Wochen   …»
    «Ich weiß.» Der Lemming versucht zu lächeln, doch es will ihm nicht so recht gelingen. «Was ist denn überhaupt passiert? Nashornhautentzündung? Gazellulitis? Orang-Utangina?»
    «Anscheinend Legenot», antwortet Klara, «bei einem Straußenweibchen. Selten genug, dass die im Winter Eier legen, und noch viel seltener, dass sie’s dann nicht herausbringen.Obwohl ich dafür ein gewisses Verständnis hab; du weißt ja, das ist wie   …»
    «Eine Kokosnuss scheißen», nickt der Lemming. «Dann musst du dem armen Vogel wohl helfen. Ganz besonders heut: Vielleicht wird’s ja so eine Art   … Christ-Ei. Mit Heiligenschein.»
    Klara lacht auf. «Ich komm zurück, so rasch es geht», sagt sie dann. «Schauen wir einmal, wer zuerst fertig ist: ich mit dem Strauß oder du mit der Ente.»
    Es ist die erste Bescherung des heutigen Abends: Während Klara dem nächsten Taxistand entgegenstapft, begibt sich der Lemming mit Ben und Castro auf den Heimweg.
     
    Er kann es schon von weitem hören. Wie ein entsetzliches Déjà-vu, wie ein Albtraum, den man längst überwunden zu haben glaubt, so überfällt ihn das Geräusch. Es schraubt sich unerbittlich in den Kopf und lähmt die Gedanken, es stampft in der Brust, zerfetzt seine Nerven, verdunkelt sein Sonnengeflecht. Tief dröhnt das Brummen der Kompressoren, gellend und hasserfüllt wüten die Drucklufthämmer. Als er mit weichen Knien um die Ecke schwankt, blitzen ihm Lichtsignale entgegen: Gelbrotes Blinklicht, das stolze Fanal der Elitetruppe, der Crème de la Crème aller Aufreißer   …
     
    «Da kann man nix machen: Gefahr im Verzug!» Der bullige Vorarbeiter macht eine bedauernde Geste, die wohl eher ihm selbst als dem Lemming gilt. «I könnt mir auch was Kommoderes vorstellen heut Nacht!»
    Der Lemming steht ihm gegenüber, ein wenig zur Seite gedreht, um Ben vor dem Dröhnen der Kompressoren zu schützen. «Was heißt Gefahr im Verzug!», brüllt er, zornweiß im Gesicht.
    «Gasgebrechen! Wahrscheinlich wegen dem Frost!»
    «Wegen   … dem Frost?» Der Lemming schnappt

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