Lemmings Zorn
offen ist sie jetzt und voller Freude.
«Wunderbar, danke. Er lebt den ewigen Traum seines Vaters: Nur trinken, schlafen und hin und wieder ein bisserl raunzen. Sagen Sie, der Krach … die Geräusche, ich meine die Klänge da vorhin: Sind Sie im Gastgewerbe?»
Eine Pause tritt ein. Schon befürchtet der Lemming, dass die Verbindung unterbrochen ist, als doch noch – nun wieder in merklich kühlerem Tonfall – Angela Lehners Antwort erfolgt.
«So ähnlich», meint sie knapp. «Warum rufen Sie an, Herr Wallisch?»
«Ich … Es ist nur, weil … Meine Frau und ich, wir hätten da eine Bitte an Sie. Wir sind schon lange auf der Suche nach einem geeigneten Vornamen, aber … Irgendwie schaffen wir’s nicht. Über Blödsinnigkeiten wie
Conan
oder
Flankebald
», der Lemming muss schon wieder kichern, «kommen wir einfach nicht hinaus. Und da wollten wir Sie fragen, ob Ihnen dazu etwas einfällt.»
«Sie … Sie meinen, ich soll … mich da einmischen? Ist das ihr Ernst?»
«Ernst? Das ist mir ein bisserl zu, na ja, ernst. Aber vielleicht einen anderen Vorschlag, wenn Sie hätten.»
«Ben», sagt Angela Lehner, ohne zu zögern.
«Ben?»
«Ja. Benjamin: Sohn des Glücks. So würde ich ihn nennen.»
4
Ein großer Sommer ist das gewesen, eine helle und frohe, erregte und zärtliche Zeit. Eine Zeit der Liebe und des Lachens, rundum gut. Und ein noch größerer Herbst: Ende Oktober hat der Lemming Abschied genommen. Mit einem Liter Veltliner bewaffnet hat er seinen letzten Nachtdienst im Schönbrunner Tiergarten angetreten.
Es ist nun einmal so, dass sich der Lohn eines Wachebeamten nicht mit dem einer Tierärztin messen kann: Für den Gegenwert eines von Klara verabreichten Nilpferdklistiers musste der Lemming zwei lange Nächte hindurch das Zoogelände durchstreifen. Trotzdem waren es nicht nur finanzielle Gründe, derentwegen er die Pflichten des Verdieners und Ernährers (und damit den glorreichen Status des Jägers und Sammlers) Klara überließ. Im Gegenteil: Sie stellten nicht mehr für ihn dar als ein weiteres Argument, um endlich einen Logenplatz an der Wiege seines Sohnes zu ergattern. Das erste Halbjahr Elternschaft war absolviert, die Stillzeit beendet, und so stand der Erfüllung seines Wunsches nichts mehr im Wege: «Ich will auch», hatte er eines Abends zu Klara gesagt, die gerade den rosigen Hintern des Kleinen eincremte. «Ich will auch.» Das musste genügen.
Im mittlerweile wohlgeheizten Wächterhäuschen hat der Lemming zur Feier der Nacht seinen Wein entkorkt, als – in charmanter Begleitung einer Flasche Burgunder – sein Freund und Kollege Pokorny erschien, um mit ihm anzustoßen.
«Sag, was bist du jetzt eigentlich?», hat Pokorny gefragt. «Arbeitsloser, Rentner oder Privatier?»
«Ich weiß gar nicht, wie man das nennt», hat der Lemming geantwortet. «Wahrscheinlich so ähnlich wie … Karenzier.»
«Und du bist sicher, dass du dir das antun willst?»
«Was?»
«Na, die ganze Maloche halt: füttern, beruhigen, wickeln, herumtragen, wickeln, beruhigen und füttern …»
Da hat der Lemming nur genickt und zufrieden gelächelt.
«Alter Frauenversteher», hat Pokorny zurückgegrinst. «Prost, Poldi, du Sitzbrunzer. Ich trink auf den Benny.»
«Prost, Pepi. Ja, auf meinen kleinen Ben.»
Wahrhaftig: eine rundum gute Zeit.
Nicht zuletzt wegen Angela Lehner. Im Lauf der vergangenen Monate hat sie sich unaufhaltsam von der Freundin zur Geliebten gemausert – zur Geliebten des kleinen Ben, versteht sich. Anfangs ist sie nur gelegentlich in Ottakring erschienen, nicht ohne sich jedes Mal minutiös vergewissert zu haben, dass sie ganz sicher nicht störte. Allmählich jedoch sind ihre Besuche regelmäßiger geworden: Besuche, die – und daran ließ sie keinen Zweifel – in erster Linie Benjamin und erst in zweiter Klara und dem Lemming galten. Wenn Ben noch nicht empfangsbereit war, weil er im Obergeschoss seinen Milchrausch ausschlief, übte sie sich in Geduld und begnügte sich vorerst mit seinen Eltern. Dann saß sie im Garten oder beim Küchentisch, schweigsam und ernst und immer ein wenig in sich gekehrt. Für die Erzählungen Klaras und für die Geschichten des Lemming zeigte sie stets großes Interesse, während sie Fragen zu ihrem eigenen Leben unbeantwortet ließ, indem sie sie freundlich, aber entschieden umschiffte.
«Woher können Sie das so gut? Ich meine, Babys zur Welt bringen?», hat Klara sie zum Beispiel eines Nachmittags
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