Lena Christ - die Glueckssucherin
Von den Flitterwochen war sie enttäuscht, »die Zärtlichkeiten meines Mannes verursachten mir körperlichen Schmerz«. Sie fühlte sich von ihm benutzt, besudelt und von diesem Moment an nie mehr respektiert. Die Achtung, die er ihr bei seiner Werbung noch entgegengebracht hatte, war verschwunden, nachdem er das erste Mal mit ihr geschlafen hatte. Er hatte sie in Besitz genommen. Damit war sie seiner Willkür ausgesetzt.
Ganz anders hatte sie das Verhältnis der Großeltern erlebt. Sie konnte sich nur an eine einzige Verstimmung erinnern, die sie in ihren Erinnerungen ausführlich schildert: Der Großvater entschloss sich, eine Kuh, die wenig Milch gab, auf dem Markt in Holzkirchen gegen eine andere einzutauschen. Die Großmutter war skeptisch und sollte damit recht behalten: Die neue Kuh gab genauso wenig Milch. Daraufhin machte die Großmutter ihrem Ärger Luft und schimpfte so sehr mit ihrem Mann, dass dieser ausfallend wurde, sich mit groben Worten verteidigte und sie »Rindvieh« nannte. Die Großmutter verstummte, begann aber beim Abendessen plötzlich ohne erkennbaren Grund zu weinen und lief hinaus. Hier bewies die kleine Lena große Sensibilität, wies ihren Großvater zurecht, ging zur Großmutter in die Küche und tröstete sie. Schließlich war sie es auch, die die Großeltern wieder zusammenführte und dem Großvater das Versprechen abnahm, die Großmutter nie wieder mit so bösen Ausdrücken zu verletzen. »In der Nacht hab ich zwischen ihnen beiden geschlafen und hab ein jedes bei der Hand genommen und ihnen die Hände gedrückt und sie festgehalten«, berichtet sie. Doch der tiefe seelische Schmerz der Großmutter hielt länger vor. In derselben Nacht begann sie wieder zu schluchzen, worauf der hilflose Großvater unwirsch reagierte, was bei Lena einen Wutausbruch auslöste. Sie trat ihn mit den Füßen, zog ihn an den Haaren und schrie ihn an. Dann kletterte sie zur Kante des Bettes und überließ der Großmutter den Platz in der Mitte. Am nächsten Morgen war ihre erste Frage, ob sie sich wieder gut seien. Obwohl die Großmutter das bejahte, brach das Weinen immer wieder aus ihr hervor. Erst nach einigen Tagen war alles vergessen. Lena Christ schildert diese Szene detailliert und eindringlich mit vielen Zwischentönen, die das Besondere der Beziehung ihrer Großeltern deutlich werden lassen. Weil sie immer behutsam miteinander umgegangen waren, verunsicherte es die kleine Lena zutiefst, dass sie nun so heftig stritten. Sie fühlte sich durch die ungewohnte Unstimmigkeit in ihrer heilen Welt bedroht. Ihr Engagement war also nicht uneigennützig. Sie wollte das Glück wiederherstellen. Alles sollte so bleiben, wie es gewesen war.
Beim Streitschlichten wandte sie damals als Druckmittel die Drohung an, die Großeltern zu verlassen und zu ihrer Mutter nach München zu gehen. Das wäre allerdings weniger eine Strafe für die Großeltern gewesen als in erster Linie für sie selbst. Allerdings konnte sie das noch nicht wissen – sie war gerade fünf Jahre und hatte ihre Mutter noch nie gesehen. Kurz darauf meldete diese tatsächlich in einem Brief ihren Besuch an. Der Großvater ermahnte Lena, nun sehr brav zu sein, denn die Mutter würde ihr bestimmt etwas Schönes mitbringen, und sie dürfe sie von der Bahn abholen. Lena war aufgeregt und glaubte, die Mutter würde noch am selben Tag kommen. Und sie rannte los zum Bahnhof – ohne um Erlaubnis zu fragen, ohne jemandem Bescheid zu geben.
Sie lief barfuß und ohne schützende Kopfbedeckung in der Mittagssonne. Der Weg war weit, mehr als zehn Kilometer, und führte über Felder und Wiesen, vorbei an Schloss Zinneberg und Westerndorf durch einen dunklen Wald. An der Stelle, an der ein Bauer erschlagen worden war, wurde ihr unheimlich zumute. Sie bekam kaum noch Luft und war nahezu bewegungslos vor Angst. Erst zwei Radfahrer, die sie nach dem Weg fragten, erlösten sie von dem Bann, der sie festhielt. Sie rannte an ihnen vorbei in den nächstgelegenen Ort, Moosach. Eine Bäuerin gab ihr zu essen und zu trinken, dann lief sie weiter nach Grafing. Gegen sieben Uhr am Abend erreichte sie den Bahnhof und erfuhr, dass der letzte Zug aus München schon um fünf angekommen sei und der nächste gegen acht Uhr eintreffen würde. Als ein Zug hielt und eine elegante Frau ausstieg, stürmte Lena auf den Bahnsteig und fragte, ob sie ihre Münchner Mutter sei. Die Frau gab ihr keine Antwort, stattdessen erschallte eine Ansage, aus der sie schloss, dass es sich um den
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