Lena Christ - die Glueckssucherin
Wenn man die Maria- und Joseph-Figuren von ihrem Untersatz abschraubte, wurde in ihrem Inneren jeweils ein Medikamentenfläschchen sichtbar. Das Jesuskind hingegen enthielt einen Schlüssel, mit dem man das Haus von Nazareth öffnen konnte, vor dem die kleine Gruppe stand. Im Inneren des Hauses befanden sich Pflaster, Salben und verschiedene medizinische Instrumente.
An den Wänden des Zimmers hingen düstere Porträts, die Lena erschaudern ließen, dazu ein Kruzifix, »dessen Christusfigur so erschreckend zerfleischt aussah«, dass sie immer ein geheimes Grauen packte, wenn sie ihr gegenüberstand.
Doch das kleine Museum war nur ein Teil der Künikammer, der andere wurde für Vorräte genutzt: Auf dem Ofen stand eine Schale mit Eiern, daneben ein Blechtopf mit Schmalz und einige Krüge mit Honig. Das »feine Eingekochte« war in der Bratröhre versteckt. Auf Lena übten beide Bereiche des Raums große Anziehungskraft aus: Ebenso gern, wie sie in den Schubladen und Truhen herumwühlte und sich mit schönen Dingen schmückte, naschte sie von den eingekochten Kirschen, Himbeeren und Zwetschgen. Dabei musste sie das Pergament, mit dem die Gläser verschlossen waren, aufschlitzen. Das konnte nicht unentdeckt bleiben, die Großmutter wunderte sich, dass das Papier so oft platzte. Der Großvater kannte den Grund, verriet ihn aber nicht, sondern meinte, das sei ein Hinweis darauf, dass das Obst bald gegessen werden müsse. Dabei schenkte er Lena einen vielsagenden Seitenblick.
Die Künikammer im Hansschusterhaus war für Lena eine Mischung aus Schlaraffenland und Ali Babas Schatzhöhle. Wie dieser verschaffte sie sich heimlich Eintritt in den verbotenen Raum. Dort konnte sie in Fantasien über ihre Herkunft schwelgen. All das, was sie darin fand, war Beweis dafür, dass ihre Vorfahren etwas Besonderes gewesen waren und in Wohlstand gelebt hatten. Und parallel dazu wurde das Rätsel um ihren Vater jedes Mal aufs Neue wieder aufgefrischt.
Nie gab Lena Christ die Hoffnung auf, dass dieses Dunkel einmal erhellt werden würde – wie jenes, das die Eltern der Jungfer Kathrein in Mathias Bichler umgibt. Auch hier taucht das Motiv der Truhe, die Geheimnisse und schöne Dinge birgt, auf. Das Testament der alten Irscherin verkündet: »In den blauen Truhen unter meiner Himmelbettstatt liegt zu finden das erste Gewändlein samt Schühlein und Beutel mit fünfhundert Gulden Besitztum genannter Jungfer Kathrein.«
Lena Christ sollte ihr Faible für schöne Dinge ihr Leben lang behalten, wie Peter Jerusalem berichtet, mehr noch, sie schaffte es, auch in ihm diese Freude an der Schönheit zu wecken. Wenn sie mit einem neuen Objekt – einem Bierkrug etwa aus Glas, der mit eingeschliffenen Figuren, Blumen und Ornamenten geschmückt war – vom Trödelmarkt nach Hause kam und diesen Schatz, der »bloß vier Markl« gekostet hatte, stolz präsentierte, zeigte er sich anfangs reserviert. All die Haushaltsgegenstände, die sie viel dringender benötigten, fielen ihm ein, doch es dauerte nicht lange, bis er sich von ihrer Begeisterung mitreißen ließ: »Es war wirklich entzückend, sie hatte recht, und ganz langsam fing ich an, mich daran zu erfreuen.«
Es blieb nicht bei sporadischen Käufen und »bloß ein paar Markln«: »Aus ein paar wurden aber mit der Zeit viele, und das Schlimmste war: ich wurde auch von dieser Leidenschaft angesteckt«, gesteht Jerusalem. Waren es anfangs die Schaufensterauslagen, die sie anzogen, betrat Lena bald schnurstracks die Läden und stöberte herum, spähte auch in die hintersten Ecken, sodass sie natürlich immer etwas Schönes fand. Ein einzelner Glaskrug wurde durch weitere ergänzt. Lena liebte altes Geschirr, Schmuck und vor allem Wachsstöcke, von denen sich ein halbes Dutzend aufwendig gestalteter Exemplare in ihrem Nachlass befinden. Sie konnte es kaum erwarten, dass die Auer Dult auf dem Mariahilfplatz eröffnet wurde.
7 Werbebriefmarke Auer Dult, 1912
Noch heute ist der dreimal im Jahr stattfindende Münchner Jahrmarkt eine skurrile Attraktion: Einzigartig ist die Mischung aus Volksfest mit Bierzelt, Biergarten, Fahrgeschäften und Trödelmarkt mit Geschirr- und Antiquitätenständen. Lena war immer unter den ersten Besuchern. Innerhalb kurzer Zeit glich ihre Wohnung einem Museum, mit dem Unterschied, dass die Gegenstände nicht systematisch gesammelt und katalogisiert, sondern beinahe jeden Tag »liebevoll in die Hand« genommen wurden. Sie »freute sich täglich daran«, berichtet
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