Lena Christ - die Glueckssucherin
Zug in die Gegenrichtung handelte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als zu warten. Doch sie wurde enttäuscht: Aus dem Münchner Acht-Uhr-Zug stiegen nur ein paar Männer.
Lena machte sich auf den Heimweg. Mittlerweile war es dunkel geworden, die Orientierung fiel ihr schwer, und irgendwann bemerkte sie, dass sie sich verlaufen hatte: Sie war in Wildenholzen gelandet. In einem Gasthaus erkundigte sie sich, wie weit es noch zum Haus ihres Großvaters sei. Doch man ließ das erschöpfte Kind nicht wieder fort, sondern bereitete ihm ein Bett. Lena hatte schlimme Träume, am nächsten Morgen wurde sie von einem Bauern auf dem Wagen mitgenommen. In Westerndorf stieg sie aus und ging zu ihrer Tante Nanni, der Schwester ihrer Mutter, die dort einen großen Hof bewirtschaftete. Diese brachte sie ins Hansschusterhaus. Die Großeltern waren überglücklich, als sie das tot geglaubte und schon beweinte Kind wohlbehalten vor sich sahen. »Aber kein Wort des Vorwurfs kam aus ihrem Munde«, versichert Lena Christ.
Danach wurde sie krank, bekam hohes Fieber und eine Lungenentzündung. Als sie fast wieder gesund war, sah sie ihre Mutter zum ersten Mal: »Da trat eine große Frau in die niedere Stube in einem schwarz und weiß karierten Kleide über einem ungeheuern Cul de Paris. Auf dem Kopf trug sie einen weißen Strohhut mit schwarzen Schleifen und einem hohen Strauß von Margeriten. Sie stand da, sah mich kaum an, gab mir auch keine Hand und sagte nur: ›Bist auch da!‹« Die Mutter demonstrierte mit ihrem Auftritt die Distanz, die sie zu ihren Angehörigen gewonnen hatte. Nicht die ledige Mutter aus Glonn, sondern die »Münkara Muatta«, eine erfolgreiche Gastwirtin, kam zu Besuch. Ihre Tochter erinnerte sich vor allem an ihr eindrucksvolles Äußeres. So etwas hatte sie bisher nicht gesehen. Es tat seine Wirkung und flößte ihr Bewunderung ein – Staunen, aber keine Zuneigung, und so antwortete Lena auf die Frage des Großvaters, ob sie nicht zu ihrer Mutter in die Stadt ziehen wollte, spontan mit »Naa, naa«. Mehr noch, sie umhalste den geliebten Großvater und hielt ihn fest.
3
Die Künikammer
Um in den geheimnisvollsten Raum des Hansschusterhauses zu gelangen, musste sich Lena über ein Verbot hinwegsetzen: In der Künikammer oder Königskammer, die sie gern heimlich aufsuchte, fand sie kostbare Gegenstände, die sie träumen ließen, von feiner Herkunft zu sein. In den Erinnerungen schwärmt sie: »Es war das die beste Stube des Hauses, angefüllt mit den Schätzen, die von den Ureltern auf uns gekommen waren; auch die Möbel darin stammten aus alter Zeit. Da standen zwei Truhen, an denen gar seltsame Figuren und Zierrate zu sehen waren und darinnen der Brautschatz der Urgroßmutter lag. Es war dies ein bald bläulich, bald wie Silber schimmerndes Seidenkleid, ein köstliches, bunt und goldgesticktes Mieder, dazu eine goldbrokatene Schürze, in die leuchtend rote Röslein gewirkt und die mit alten Blonden besetzt war. Dabei lag eine hohe Pelzhaube, wie sie vor hundert Jahren die Bräute als Kopfputz trugen, und zwei Riegelhauben, eine goldene und eine schwarze, mit Perlen besetzt. Daneben stand ein Kästlein aus schwarzem Holz und mit Perlmutter eingelegt; darin lag das schwere, silberne Geschnür mit uralten Talern und einer kostbaren silbernen, neunreihigen Halskette und Ohrgehänge und silberne Nadeln. Ganz versteckt in der untersten Ecke aber lag, sorglich in ein zerschlissenes, seidenes Tuch gewickelt, das Brautkrönlein der Ururgroßmutter.«
Die zweite Truhe enthielt erlesene Stoffe und Spitzen, der bunt bemalte Schrank handgewirktes Bauernleinen und ein großes gewebtes Tischtuch, das mit dem Motiv des heiligen Abendmahls geschmückt war. In der Kommode wurden Lenas Taufkleid und die Kleider der Kostkinder aufgehoben.
Das Glanzstück der Künikammer war eine Glasvitrine, die zwischen den mit dichten Vorhängen geschützten Fenstern stand. Ihre Rückwand war mit Spiegeln versehen, in denen sich Meißener Porzellanfiguren, Geschirr, bunte Gläser und Krüge spiegelten. Davor stand die alte Hausapotheke: »Sie war voller Geheimnisse und sah aus wie ein Bild, das die heilige Familie vor dem Haus zu Nazareth darstellte; nur waren die Figuren rund und in Silber getrieben.« Der heilige Joseph war als Zimmermann mit einer Axt dargestellt, Maria saß am Spinnrad und spann. Das Jesuskind lag nicht etwa in einer Krippe, sondern stand aufrecht, in der einen Hand eine Axt, in der anderen ein Kreuz haltend.
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