Lenas Flucht
eben eine Patientin mit der Schnellen Medizinischen Hilfe zu Ihnen schicken müssen. Ein sehr unangenehmer Fall: eine Fünfunddreißigjährige in der 24. Woche …«
Amalia Petrowna hängte ein, atmete erleichtert auf, drückte die Zigarette aus und ließ Stationsarzt Simakow kommen.
Zweites Kapitel
Lena Poljanskaja war Vaters Tochter. Ihre Mutter, eine begeisterte Bergsteigerin und Meisterin des Sports, stürzte von einer Felswand ab, als sie kaum zwei Jahre alt war. Jelisaweta konnte ohne ihren Sport nicht leben. Nikolai Poljanski nahm also Urlaub und kümmerte sich um das zweijährige Kind, damit seine Frau den Elbrus besteigen konnte. Diese Großmut verzieh er sich sein Leben lang nicht.
Seine Tochter zog er allein groß. Auch die beste Frau, meinte er, konnte für seine Lena nur eine Stiefmutter sein …
Lena gehörte von der ersten Schulklasse bis zum letzten Semester an der Journalistenfakultät stets zu den Besten. Dabei war sie keine Streberin; das Lernen machte ihr einfach Spaß.
In den oberen Klassen begannen sich ihre Mitschülerinnen die Brauen auszuzupfen, hüpften auf Partys nach Rockmusik herum, rauchten auf der Toilette und schwärmten von den Jungen, die ihnen gefielen.
Lena suchte man dort vergeblich. Partys fand sie blöd, außerdem konnte sie nicht tanzen. Statt dessen las sie von früh bis spät alles, was ihr in die Finger kam. Völlig unerwartet für den Vater, einen Doktor der Physik und der Mathematik, und auch für sich selbst schrieb sie sich an der Journalistenfakultät der Moskauer Universität ein.
Der Vater blieb also fortan allein. Dafür heiratete Lena gleich zweimal. Ihr erster Mann war ein Mitstudent, ein zarter Knabe mit aschblondem Schnurrbärtchen. Lena überragte ihn um einen halben Kopf. Wer seiner ansichtig wurde, erklärte augenblicklich: »Sie sind ja der zweite Lermontow!« Worauf er finster zur Antwort gab: »Ich weiß.«
Lenas erster Mann hieß Andrej. Er hauste in einem winzigen Zimmerchen in einer Gemeinschaftswohnung. Dort fand bei Sprotten und Salat, Zigarettenkippen auf Untertassen und heißen Küssen im dunklen Korridor, wo einem stets eine alte Waschwanne oder ein Fahrrad auf den Kopf zu fallen drohte, ihre Hochzeit statt.
Schon nach einem Monat kehrte Lena zu ihrem Vater zurück. Wenn sie und Andrej sich in der Fakultät begegneten, grüßten sie einander höflich. Ein halbes Jahr später wurden sie in gegenseitigem Einvernehmen geschieden.
Lenas zweite Ehe währte länger und wog schwerer.
Sofort nach dem Examen forderte eines der beliebtesten Jugendjournale jener Zeit Lena als Sonderkorrespondentin an. Man schrieb das Jahr 1983. Ein Generalsekretär nach demanderen segnete das Zeitliche. In Afghanistan tobte der Krieg. In Sibirien gingen die Erdölvorräte zu Ende. Doch Lena Poljanskaja stürzte sich Hals über Kopf in eine Liebesaffäre.
Er war ein nicht sehr bekannter, aber bereits arrivierter Schriftsteller. Seine etwas langweiligen, moralisierenden Geschichten erschienen häufig in der Zeitschrift, bei der Lena beschäftigt war.
Juri war zehn Jahre älter als Lena und hatte bereits eine bewegte Vergangenheit mit einer geradezu unanständigen Zahl verlassener Frauen und Kinder hinter sich. Er war von dieser wuchtigen, unverschämten Männlichkeit, die Frauen einfach umwirft – breite Schultern, ein schweres Kinn und eine rauchige Baßstimme. Aus ihrem Rausch erwachte Lena erst, als bereits zwei Jahre freudlosen Zusammenlebens hinter ihr lagen …
Das war 1985. Um über Kummer und Demütigung hinwegzukommen, stürzte sie sich in die Arbeit, machte sich einen Namen und leitete 1992 bereits die Abteilung Literatur und Kunst in der Redaktion der russisch-amerikanischen Frauenzeitschrift »Smart«.
In jenem Jahr starb unerwartet ihr Vater. Der Magenkrebs zerstörte einen Mann, der drei Monate zuvor noch gesund und voller Kraft gewesen war. Eine Woche vor seinem Tod sagte er ihr: »Schaff dir ein Kind an, Lenotschka. Sonst bleibst du ganz allein auf der Welt …«
Nun hatte sie tatsächlich nur noch ihre alte, etwas spleenige Tante Soja, die Schwester ihrer Mutter.
Aber zu einem Kind entschloß sich Lena erst drei Jahre später, als sie bereits fünfunddreißig war. An Heirat wollte sie nicht denken. In die Umstände brachte sie ein Mann, der zum Vater nicht taugte. Er war nur der Erzeuger, so etwas wie ein Zuchtbulle …
Stationsarzt Boris Simakow kam ins Büro seiner Chefin gestürzt und stammelte schon auf der Schwelle: »Amalia
Weitere Kostenlose Bücher