Lenas Flucht
Name darunter. Eine feste, klare Handschrift.
Bereits nach vier Tagen durfte Lena mit ihrem Kind nach Hause. Krotow, der in seinem hellgrauen Anzug geradezu feierlich wirkte, erwartete sie mit einem großen Strauß Rosen im Vestibül der Klinik.
Endlich erschien Lena – blaß und abgemagert. Neben ihr ging eine Schwester, die ein winziges, mit rosa Bändern umschlungenes Paket im Arm hielt. Krotow überreichte Lena die Blumen und nahm das Baby ungeschickt und vorsichtig aus den Händen der Schwester entgegen.
»Wie halten Sie es denn? Na, Sie sind mir ein Vater! Das ist doch kein Blumenstrauß.« Die Schwester schlug eine Ecke des Tuchs, in das das Kind gehüllt war, zurück, und Krotow erblickte ein winziges rosiges Gesichtchen.
»Ein hübsches Kind, ganz der Papa!« bemerkte die Schwester.
Als sie zum Wagen gingen, nahm ihm Lena das Bündel ab.
»Warte einen Augenblick.« Sie lief zum Tor.
Dort stand eine hochgewachsene Blondine in schwarzenJeans und schwarzer Lederjacke. Irgendwie kam sie Krotow bekannt vor. Er sah, wie Lena und die Frau sich küßten und die Unbekannte das Kind betrachtete. Was sie miteinander sprachen, konnte er nicht hören.
»Wer war das?« fragte er, als Lena zurückkam.
»Kannst du dir das nicht denken? Das ist Sweta.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Sie hat so viele Sachen für unser Mädchen gekauft, daß es fast peinlich ist. Man müßte ihr etwas dafür bezahlen.«
»Wo denkst du hin … Wie soll unser Kind überhaupt heißen?«
»Darüber zerbreche ich mir schon die ganzen vier Tage den Kopf«, seufzte Krotow. »Nie hätte ich mir das so schwer vorgestellt. Mir gefällt zum Beispiel Jelisaweta …«
»Das ist ja toll!« rief Lena froh. »Daran habe ich auch schon gedacht. So hat meine Mama geheißen. Hör mal, wie schön das klingt: Jelisaweta Sergejewna Krotowa!«
Abends kam Goscha Galizyn zu Gast. Als alle bei Tische saßen, sagte er: »Erinnerst du dich noch? Du hast mal versprochen, mir deinen ersten und stärksten Eindruck von New York zu erzählen.«
»Als ich vierzehn war«, begann Lena nachdenklich, »habe ich für Salingers ›Fänger im Roggen‹ geschwärmt. Besonders für die Stelle, als Holden am Teich im Central Park sitzt und darüber nachdenkt, wo die Enten im Winter bleiben. Der Teich friert zu, und ihre Flügel sind beschnitten. Mein stärkster Eindruck war dieser Teich am Südeingang des Central Park, mit seinen Enten … Auch mir konnte niemand sagen, wo sie im Winter bleiben.«
»Das ist alles?« fragte Goscha enttäuscht.
»Ist das wenig?«
Informationen zum Buch
Lena fürchtet um ihr noch ungeborenes Baby. Es ist zwar kerngesund, aber da sind Leute, die ihr einreden wollen, es sei schon tot. Instinktiv flieht sie aus der Klinik. Doch die Miliz glaubt ihr nicht. Als in Lenas Wohnung eingebrochen wird, erkennt sie, dass es offenbar um mehr geht als um eine medizinische Fehldiagnose."Polina Daschkowa erzählt filmreif." FAZ"Polina Daschkowa befindet sich in bester Gesellschaft internationaler Kriminalliteratur." Mitteldeutsche Zeitung
Informationen zur Autorin
POLINA DASCHKOWA , geboren 1960, studierte am Gorki-Literaturinstitut in Moskau und arbeitete als Dolmetscherin und Übersetzerin, bevor sie zur beliebtesten russischen Krimiautorin avancierte. Sie lebt mit ihren zwei Töchtern in Moskau .
Im Aufbau Verlag bisher erschienen: "Die leichten Schritte des Wahnsinns" (2001), "Club Kalaschnikow" (2002), "Russische Orchidee" (2003), "Lenas Flucht" (2004), "Für Nikita" (2004), "Du wirst mich nie verraten" (2005) , "Keiner wird weinen"(2006) und „Der falsche Engel“ ( 2007), „Das Haus der bösen Mädchen“ (2008) und „In ewige Nacht“ (2010).
Fußnote
1
Hauptgestalt aus Puschkins Novelle »Die Hauptmannstochter«.
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