Lenas Tagebuch
Alarm abgeblasen wurde? Lena bekam es nicht mit, sie drehte sich auf die andere Seite, sagte sich: »Sollen sie mich doch umbringen« und schlief weiter. Am Abend gab es ein Gewitter mit einem schrecklich starken Wolkenbruch, und noch später begann Artilleriefeuer. Wer auch immer schoss, die Unsrigen oder die Deutschen, die Geschütze feuerten so laut und in solcher Nähe, dass das ganze Haus bebte und die Fensterscheiben klirrten. Lena dachte zuerst, dass unsere Flak feuerte, aber in diesem Moment wurde über das Radio verkündet, dass die Stadt von Artillerie beschossen werde.
22. Mai
Gestern erlebte Lena ein spannendes Abenteuer. Sie verließ Weras Haus um neun Uhr und wartete sehr lange auf die Straßenbahn. Als diese endlich kam, war sie gestopft voll, ebenso die zweite, und da entschied sich Lena, in die andere Richtung zu fahren. »Es ist egal«, dachte sie. »Ich habe es nicht eilig, ich werde bis zur Endstation gondeln und dann in Ruhe nach Hause fahren.« Nach der Hälfte des Weges erfuhr sie aber, dass die Bahn ins Depot fahre. Lena sprang sofort hinaus und wartete auf die Bahn in die Gegenrichtung, aber diese kam nicht. Sie musste zu Fuß gehen. Allein bis zu Wera musste sie vom Ersten-Murinski-Prospekt viereinhalb Kilometer laufen. Und das, nachdem sie am Vortag außer 300 g Brot am Morgen und zwei schwarzen Stücken Zwieback, die ihr Wera am Abend zum Tee gegeben hatte, nichts gegessen hatte. Aber es war nichts zu machen. Lena machte sich auf den Weg. Doch sie ging nicht, sie flog schnell dahin, ganz schnell. Zuerst weinte sie und dachte nur darüber nach, wie sie möglichst schnell den Lesnoi-Prospekt entlanggehen könnte. Sie ging sogar mit geschlossenen Augen, um nicht sehen zu müssen, wie viel sie noch zurückzulegen hatte. Aber ihre Umgebung brachte sie allmählich dazu, ihr Leid zu vergessen. Es war ein wunderschöner Frühlingsabend. Es roch nach frischem Grün. Der Duft war außerordentlich angenehm. Es wehte ein warmer Windhauch. Die Büsche am Straßenrand hatten frische, klebrige Blätter ausgetrieben, hinter den Büschen zogen sich bis zum Bahndamm die gepflügten Beete der Gemüsegärten hin. Ringsumher war es weit und still. Im Gehen genoss Lena diesen Frühlingsabend, atmete den wunderbaren Duft, den wohlriechenden Frühlingsduft, und bemerkte gar nicht, wie sie zur Eisenbahnbrücke gelangt war. Dort erblickte sie am Fußweg einen schnaufenden Lastkraftwagen, an dem der Fahrer herumhantierte. Nach langem Bitten willigte der Fahrer ein, Lena für eine Schachtel Streichhölzer und den Fünfer, den Wera ihr gegeben hatte, zum Finnischen Bahnhof zu bringen.
Dann kam noch eine Frau hinzu, die er für das Stück Brot mitnahm, das sie bei sich trug. Sie musste zu den »Fünf Ecken«, und sie vereinbarten mit dem Fahrer, dass er sie bis zur Ecke Liteini-Prospekt und Nekrassowastraße bringen würde. Die Reisegefährtin kletterte auf die Ladefläche, Lena dagegen setzte sich neben den Fahrer, im Führerhaus war es warm und gemütlich. Sie jagten dahin wie die Verrückten, die Straße war wie leergefegt. Nur selten überholten sie einzelne Fußgänger. Lena erklärte unterwegs, dass sie auch zu den Fünf Ecken müsse, und bat, sie möglichst nah abzusetzen, er willigte ein. Als sie über die Newa fuhren, überlegte er es sich anders, fuhr nicht mehr den Liteini-Prospekt entlang, sondern bog in die zweite Querstraße ab. Er sagte, seine Garage befände sich am Marstallplatz. Er fahre nun die Fontanka entlang, an Sommergarten und Marsfeld vorbei, und schlug ihnen vor, dort auszusteigen. Lena war einverstanden, aber die andere Frau stieg sofort aus und ging den Liteini-Prospekt entlang. Für Lena war das natürlich von Vorteil, er brachte sie bis zur Ecke Marsfeld und Michailowski-Park. Lena dankte ihrem Retter und stürmte in größter Eile nach Hause, die Sadowaja entlang, an der Alexandrinka 132 vorbei, durch die Rossistraße und die Tschernyschewgasse. Überall war es menschenleer, nur die lauten Schritte einsamer Passanten auf dem Gehsteig waren zu hören. Die »Internationale« war schon lange im Radio verklungen, als Lena zu Hause anlangte. Sie schaffte es kaum die Treppen hinauf in die vierte Etage, schloss ihr Zimmer auf, zog sich aus und fiel ins Bett, wo sie sofort tief und fest einschlief. Sie schlief wie ein Stein und erwachte erst um halb zwölf. Sie stand auf und eilte in die Choreografieschule, um ihr Mittagessen zu holen. Unterwegs kaufte sie sich ihr Brot. Ausgerechnet
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