Lenas Tagebuch
zur letzten Patrone. Sie hielten den Vorstoß der stählernen Ungetüme auf, aber die Kräfte waren zu ungleich, und die fünf Tapferen verstanden bald, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten. Und da verabschiedeten sie sich voneinander, umarmten sich ein letztes Mal, küssten einander. Sie warfen sich einer nach dem anderen, mit Granaten umgürtet, unter die stählernen Ketten der Panzer und sprengten sich mit den Panzern in die Luft. Sie fielen, die Kühnen, aber die Panzer kamen nicht durch. Das Vaterland wird ihre Namen niemals vergessen. Sie werden in die Geschichte eingehen, alle Völker unseres Vaterlandes werden Lieder, Heldenepen und Erzählungen über sie verfassen. Ruhm solchen Menschen.
Das Schicksal warf sie, die fünf Kühnen,
Gegen Panzer – übermächt’ger Feind.
Stark ist der Feind, der Tod droht ihnen,
Doch sind die Tapf’ren fest vereint.
Sterben werden sie noch nicht,
Fehlt auch der Hand die Kraft für Taten,
Erfüllen sie noch ihre Pflicht,
Am Gürtel tragen sie Granaten.
Verletzt sind sie, verströmen Blut 130
18. Mai
Heute ist es besonders schwül und heiß. Am Himmel kriechen schwere, bleierne Wolken, wahrscheinlich wird es ein Gewitter oder wenigstens Regen geben. Ein echter Sommertag. Die Bäume und Büsche sind ergrünt. In den Parks, auf den Rasenflächen ist das junge Gras kräftig gewachsen. Die Leningrader fahren schon vor die Stadt, um Brennnesseln und Sauerampfer zu sammeln. Lena lebt an diesem Tag gut. Morgens gehst du Brot holen, die Vöglein singen, die Bäume werden grün, die Züge rattern, die Straßenbahnen bimmeln, am Himmel brummt ein Flugzeug. Gut lebt es sich in der weiten Welt. Nur schade, dass Mama es nicht geschafft hat, bis zu diesen wunderbaren Tagen zu überleben, dabei wollte sie doch so sehr das erste Frühlingsgrün erblicken.
Wera sagte zu Lena: »Lenka, was für ein Glück du doch hast. Du wirst die Wolga sehen, in einer so wunderschönen Zeit machst du dich auf eine weite Reise. Du beginnst dein Leben völlig von Neuem. Denk nur, deine Zukunft liegt ganz in deinen Händen. Das ist doch spannend.« Ja, Lena hat Glück, das stimmt, aber um ihr Glück ganz zu genießen, fehlt ihr nur eines: genug zu essen. Wenn sie nur etwas mehr zu essen hätte, wäre die Welt noch schöner. Auch wenn du dich glücklich fühlst, ist dir doch wehmütig ums Herz, und diese Wehmut vergiftet jeden Genuss.
Wehmut … Lena kann den Tag kaum erwarten, an dem sie am Bahnhof zwei Kilo Brot, Brei und Suppe erhalten 131 , sich in den Zug setzen und von Leningrad Abschied nehmen wird.
Zum Frühstück hatte Lena heute Tee mit Konfekt. Kissa und Wera erhielten die Arbeiterrationen, je 100 g Schokolade und 200 g Konfekt. Jede gab Lena ein Stück Konfekt und ein Stückchen Schokolade. Dank dem Teller Suppe, den Lena am Abend zuvor gegessen hatte, fühlte sie sich, nachdem sie Brot gegessen hatte, satt und hob für den Abend ein ordentliches Stück Brot auf. Doch bevor sie die Wohnung verlassen wollte, konnte sie sich nicht beherrschen und aß das ganze Brot auf. Nur ein klitzekleines Stückchen Brot und einige Schokoladenkrümel blieben übrig. Nein, sosehr du auch mit dir ringst, sosehr du dich auch belügst, die Wahrheit ist und bleibt: Lena ist die ganze Zeit halb verhungert.
Ich pfeife auf morgen, wenigstens heute will ich satt werden, sagte sich Lena und nahm in der Kantine zwei Portionen Weizenbrei. Vier Marken musste sie dafür hergeben. Lena aß in der Kantine nur einen Löffel heißen Brei, den Rest trug sie nach Hause, was ihr nur selten gelang, goss ihn mit Wasser auf und kochte Suppe daraus. Sie gelang hervorragend, dick und köstlich. Lena aß zwei Schüsseln Suppe und dann den Bodensatz als Brei, und doch verspürte sie nicht die Zufriedenheit, die von richtigem Sattsein kommt. Wenn sie nach dieser Suppe noch eine Portion heißen Brei äße, wäre sie wahrscheinlich satt. Und so war es passiert, dass ihr Magen voll war, sie aber dennoch weiteressen wollte. Mit Freuden hätte sie noch etwas gegessen.
Morgen ist der 19. Kissa sagte, sie würde sich nach dem Stand der Evakuierung erkundigen. Sie versprach, alles zu versuchen, dass Lena gleich in den ersten Tagen fahren könne.
In dieser Nacht gab es Fliegeralarm. Die Flak schoss so heftig, dass das ganze Haus erzitterte und die Scheiben klirrten. Lena sah aus dem Fenster, die zahllosen blauen Fühler der Suchscheinwerfer suchten den Himmel ab, und flammende Blitze erhellten ihn im Minutentakt. Wann der
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