Lenas Tagebuch
Schakt keine Einwände gegen ihre Evakuierung erhebe. Es war die einzige Bescheinigung, die eine Angehörige beim Evakopunkt vorlegen muss.
Abends fuhr Lena, wie stets in den letzten Tagen, zu ihrem neuen Wohnort und genoss unterwegs die Vorfreude auf heißen Tee mit geröstetem Brot mit Öl. Es war bewölkt, Regen tröpfelte herab. Wie immer um diese Zeit, musste sie lange auf die Straßenbahn warten. Schließlich kamen gleich zwei hintereinander, die erste war überfüllt, die zweite nur voll. Lena gelang es, sich hineinzuzwängen, und so gelangte sie glücklich zum Finnischen Bahnhof. Als sie über die Brücke fuhren, erfreute sich Lena zum wiederholten Mal an der schönen Newa. Welche Weite, welche Breite und welch schöne Farben des Sonnenuntergangs, und vor diesem Hintergrund die Silhouette der Peter-und-Paul-Festung. Das Wasser war spiegelglatt, und die Kriegsschiffe, die am Ufer lagen, wie auch die Häuser am gegenüberliegenden Flussufer – alles spiegelte sich genauestens im Wasser. Lena konnte sich von diesem Anblick nicht losreißen. Denn bald wird sie wegfahren, und nun, da sie die Möglichkeit hat, die schöne Newa jeden Tag zweimal zu sehen, wollte sie sich dieses Bild genau einprägen. Wer weiß, wann sie sie wiedersehen wird, vielleicht erst nach vielen Jahren.
Wera hatte Gäste. Ein befreundeter Künstler mit seiner Frau. Sie haben eben erst die Verpflegungsstation verlassen und werden nun besonders verpflegt. Man hat sie beide vor dem Tode errettet, indem man sie dort einwies. Sie konnten vor Schwäche schon nicht mehr gehen, seine Frau hat neben einer Dystrophie zweiten Grades auch Skorbut. Aber jetzt geht es ihnen schon besser, und sie planen, ebenfalls wegzufahren, um den 25. bis 27. herum. Sie wollen nach Rybinsk fahren und sind gekommen, um Kissa zu bitten, ihnen dabei zu helfen.
Lena nahm an, dass sie höchstwahrscheinlich Reisegefährten sein würden. Kissa versprach, alles so einzurichten, dass man sie gemeinsam, zu dritt, evakuieren würde.
Das kleine Stück Röstbrot, das Lena vom Frühstück übrig gelassen hatte, erwies sich als zu klein, und Lena ging hungrig und unglücklich zu Bett, mit dem festen Vorsatz, morgen um sechs Uhr in der Bäckerei Brot zu holen. Aber sie schlief bis sieben Uhr und war gar nicht so hungrig, dass sie ungeduldig wurde. Sie ging um halb neun in die Bäckerei. Um neun tranken sie zu dritt Tee. Wera gab Lena zwei Löffel Buchweizenbrei, und von Kissa erhielt sie etwas rohes Fleisch – es war nämlich gerade Fleischausgabe gewesen, und Kissa hatte am Morgen für sich und Wera hervorragendes Hammelfleisch ergattert. Kissa aß genau wie Lena mit großem Appetit das rohe Fleisch. Lena bestrich ihr Brot anstelle von Butter mit dünnem Buchweizenbrei, aber als sie zu Ende gefrühstückt hatten, spürte Lena, dass sie ganz und gar nicht satt war. Daher aß sie gleich auch das Stück Brot, das sie sich für das Abendessen aufheben wollte. Lena hatte es eilig aufzubrechen, denn sie fürchtete, es könnte erneut Fliegeralarm geben, und sie könnte wieder zu spät in die Kantine kommen. Es gab zwar keinen Alarm, aber die Kantine hatte geschlossen, sodass Lena in der Prawdastraße ihr Essen bekam. Sie nahm Weizenbrei und Suppe. Zu Hause vermengte sie alles, goss mit Wasser auf und erhielt so einen ganzen Topf Suppe. Das ergab zwei Schüsseln Suppe und eine Portion Hauptgericht (den Weizenbrei mit dem Bodensatz der Soja-Erbsen-Suppe). Außerdem hob sie in einem Einmachglas Suppe für den Abend auf. Jetzt fühlte sie sich satt. Lena begann wieder zu stricken und bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Um fünf Uhr nahm der Rundfunk den Sendebetrieb wieder auf.
Danach begann Artilleriebeschuss. Draußen krachten die Explosionen, und im Radio sangen kleine Jungen. Sie hatten dieses Konzert für die Soldaten organisiert, für ihre Verteidiger. Wie bewegend ihre hellen und immer wieder abreißenden Stimmchen waren! Die Kinder sangen, rezitierten Gedichte, spielten auf dem Klavier und auf der Geige. Und draußen donnerten die Geschütze. Das sind die Deutschen, die uns und diese kleinen Interpreten, die sich von ganzem Herzen vor dem Mikrofon abmühten, vernichten wollen. Dies alles machte auf Lena tiefen Eindruck. Und noch ein weiterer Umstand ließ Lena auf ihre Heimat und deren Menschen stolz sein. Das war die Geschichte von den fünf Seeleuten der Ostseeflotte 129 . Sie nahmen den Kampf mit einer Übermacht von faschistischen Panzern auf und kämpften bis
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