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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
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da begann ein schrecklicher Artilleriebeschuss. Die Geschosse flogen eins nach dem anderen über ihren Kopf hinweg und explodierten irgendwo auf der anderen Seite der Newa. In der Kantine traf sie Marija Fjodorowna und berichtete ihr über Weras Gesundheit, dass man ihr gestern Bakteriophagen gebracht habe, dass sie schrecklich geschwächt und ganz verzweifelt sei, dass sie nicht zur Arbeit kommen könne und so weiter. Marija Fjodorowna bat sie, Wera, Kissa und Onkel Serjoscha herzliche Grüße auszurichten. Lena bat sie um einen Rubel, denn sie hatte nicht genug Geld mit. Sie kaufte eine Portion Nudeln und 50 g Fleisch.
    Um diese Zeit endete auch der Artilleriebeschuss, und Lena fuhr zu Wera.
    Onkel Serjoscha war gerade dabei, den Ofen anzuheizen, um sich das Mittagessen aufzuwärmen, und Lena briet in dem Fett, das Wera ihr gegeben hatte, ihre Nudeln und aß sie mit Genuss. Danach trank sie zwei Becher heißen Tee mit Brot dazu. Es war inzwischen halb drei. Onkel Serjoscha ging zum Arzt, Werotschka schlief ein, und Lena sah die Bücher durch und wählte die aus, die sie lesen wollte. Danach wusch sie ein wenig Wäsche. Als Onkel Serjoscha zurückgekehrt war, holte Lena Wasser und half ihm, aus der Scheune Holz zu holen. Während sie zur Scheune ging, überkam sie der starke Wunsch, endlich wegzufahren. Es war warm, aber regnerisch. Ein feiner Nieselregen ging hernieder. Es roch nach Frühling. Es war warm, die Vögel zwitscherten. Rundherum junges Grün: an den Bäumen und Büschen und auf der Erde. Lena fühlte sich in diesen Minuten so wohl, und als der Pfiff einer Dampflok ertönte, ging es ihr noch besser. Genau bei einem solchen Regenwetter wollte sie sich in den Eisen­bahn­waggon setzen und fort fahren, ganz weit fort.
    Als sie mit dem Feuerholz fertig waren, machte Lena es sich auf dem Sofa zu Weras Füßen gemütlich, schaute Bücher an, hörte Radio und unterhielt sich mit Wera. Dann kam Kissa. Lena erfuhr von ihr, ihr Vorgesetzter habe gesagt, dass am 25. Mai der erste Transport abgehe und dass sie heute damit beschäftigt gewesen sei, die abgegebenen Anträge nach vier Gruppen zu sortieren. Die erste südliche, die zweite südliche, dann die erste östliche und die zweite östliche. Lena sowie Boris Beloserow und seine Frau Nina 133 gehörten gemeinsam zur zweiten östlichen Gruppe. Über diese Nachricht freute Lena sich sehr, das heißt, die Evakuierung wird am 25. Mai und nicht irgendwann im Juni beginnen, wie man hätte annehmen können. Lena trank Tee mit geröstetem Schwarzbrot, verabschiedete sich und fuhr nach Hause. Sie war fröhlich und fühlte sich gut. Morgen war ja schon der 23. Morgen würde, wie Kissa sagte, Genaueres über die Evakuierung bekannt werden, denn heute hatte sich ihr Vorgesetzter eigens auf den Weg gemacht, um sich zu erkundigen.
    [25. Mai]
    Heute ist schon der 25. Mai. In einigen Tagen werde ich fahren. Heute geht der erste Transport ab. Kissa sagte, es sei nicht ausgeschlossen, dass ich morgen oder übermorgen fahre. Aber ich bin schon so schwach, dass es mir egal ist. Mein Hirn reagiert auf gar nichts mehr, ich lebe wie im Halbschlaf. Mit jedem Tag werde ich immer schwächer, die letzten Reste meiner Kräfte versiegen mit jeder Stunde. Völlige An­triebs­losig­keit. Selbst die Nachricht von der baldigen Abfahrt beeindruckt mich nicht im Geringsten. Ehrlich gesagt ist das schon lächerlich, denn ich bin ja nicht behindert, weder Greis noch Greisin, ich bin doch ein junges Mädchen, das noch alles vor sich hat. Ich bin doch glücklich, denn ich kann bald weg von hier. Aber wenn ich mich so anschaue, wie sehe ich bloß inzwischen aus. Mein Blick ist gleichgültig und traurig, ich gehe wie ein Behinderter dritten Grades, kann kaum humpeln, schon drei Treppenstufen hinaufzugehen ist schwer. Und ich denke mir das nicht aus und übertreibe nicht, ich erkenne mich selbst nicht wieder. Lachen unter Tränen. Früher, so vor einem Monat, kam es vor, dass ich am Tage starken Hunger verspürte, und dann entwickelte ich genug Energie, um etwas zu ergattern. Für einen zusätzlichen Bissen Brot oder etwas anderes Essbares war ich bereit, bis zum Rand der Welt zu gehen, aber jetzt fühle ich kaum noch den Hunger, ich fühle gar nichts mehr. Ich habe mich schon daran gewöhnt, aber warum werde ich mit jedem Tag immer schwächer? Kann der Mensch wirklich nicht nur von Brot leben? Seltsam.

    Heute stand ich früh auf. Ich kaufte Brot, kam »nach Hause«. Kissa hatte schon den Samowar

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