Lenas Tagebuch
nicht mehr bekannt. Die russischen Wissenschaftler, die das Tagebuch fanden, mussten mühsam nach der Autorin suchen, von der sie zunächst nicht mehr wussten als das, was im Tagebuch stand.
»War sie weggefahren oder dageblieben? War sie umgekommen, oder hatte sie es geschafft zu überleben? Und wenn ja, was war ihr weiteres Schicksal? Diese Fragen stellten sich sofort, als die letzte Seite des Tagebuchs von Lena Muchina umgewendet war.
Zunächst mussten wir sammeln, was an Informationen vorlag. Wie sich herausstellte, war das wenig. Schülerin der Leningrader Schule Nr. 30, wohnte irgendwo in der Gegend des Sagorodniprospekts, des Wladimirplatzes (damals Nachimsonplatz), der Sozialistitscheskaja oder der Rasesschajastraße, zusammen mit Mama und Aka (Kinderfrau, Großmutter?) … In Gorki (heute Nischni Nowgorod) lebten Verwandte, im Tagebuch steht sogar eine Adresse. Außerdem das genaue Geburtsdatum. Aber weder der Vatersname noch eine Adresse in Leningrad …
Wir entschieden, mehrere Spuren gleichzeitig zu verfolgen. Wir schickten eine Anfrage an das Sankt Petersburger Standesamt in der Annahme, dass, wenn Lena in Leningrad geboren worden war, wir eine genaue Adresse erhalten und in den Hausmelderegistern nachsehen könnten, ob sie die Stadt verlassen hatte oder nicht. Zugleich fragten wir im Sankt Petersburger Zentralen Staatsarchiv für historisch-politische Dokumente an, in dem sich das Original des Tagebuchs befindet, wann und wie es dorthin gelangt war. Die Antwort war nicht befriedigend: Das Tagebuch war 1962 mit einem Konvolut von Dokumenten in das Archiv gekommen, aber mit welchen, wusste niemand. Dennoch konnten uns die Archivare auch ein wenig erfreuen. In einem der kürzlich erschienenen Sammelbände über die Blockade waren einige Seiten aus Lena Muchinas Tagebuch abgedruckt, mit dem Zusatz: »Einige Tage später wurde Jelena Muchina aus Leningrad evakuiert. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt.« »Woher wissen Sie das?«, fragten wir die Autorin G. I. Lissowskaja und erfuhren: »Einer der langjährigen Mitarbeiter des Archivs hat das erzählt.« Aber wer und wann, war nicht mehr herauszufinden. Sie schien also überlebt zu haben! Aber wir wollten noch weitere Belege dafür finden.
Zu dieser Zeit erhielten wir die Auskunft vom Standesamt. Leider eine negative. Lena Muchina war nicht in Leningrad geboren worden. Im Internet recherchierten wir Telefonnummern in Nischni Nowgorod, doch die Anrufe brachten ebenfalls keine Ergebnisse. Die erste Etappe unserer Suche produzierte nur minimale Erfolge.
Wir mussten uns wieder dem Tagebuch zuwenden in der Hoffnung, neue Anknüpfungspunkte zu finden. Die gründliche Untersuchung des Originals trug Früchte. Auf den leeren Seiten, ganz am Ende des Heftes, fanden wir eine Bleistiftnotiz in eindeutig anderer Handschrift: »Bernazkaja Je. N., Sagorodni 26, Whg. 6, Tel. 5.62.15.« Sofort erinnerten wir uns an den Satz im Tagebuch: »Ich schreibe ja in Mamas Notizbuch.« Vielleicht war Je. N. Bernazkaja »Mama Lena«? Die Vermutung wurde bestätigt, als wir im Erinnerungsbuch der Blockade den Eintrag über die im Februar 1942 verstorbene Jelena Nikolajewna Bernazkaja fanden, die an der im Tagebuch genannten Adresse wohnte.
Aber warum haben sie verschiedene Familiennamen und gleiche Vornamen, warum nennt Lena ihre Mutter oft nicht einfach Mama, sondern »Mama Lena«? Und wie sind die beiden Einträge im Tagebuch über den Tod der Mutter zu erklären, wenn sie einige Zeilen später über sie schreibt, als würde sie leben? Vielleicht war Jelena Bernazkaja nicht die leibliche Mutter, und diese starb im Juli 1941. So schien es logisch. Aber es war nur eine Vermutung.
Die wichtigste Frage – das Schicksal des Mädchens selbst – blieb einstweilen ohne Antwort. Und wenn wir in den Papieren der Leningrader Künstlerin Wera Wladimirowna Miljutina suchten? Lena schreibt über sie im Frühjahr 1942 häufig. Wie aus dem Tagebuch ersichtlich ist, bemühte sie sich sehr aktiv darum, Lena die Evakuierung zu ermöglichen.
Der persönliche Nachlass W. W. Miljutinas und ihres Mannes, des Musikwissenschaftlers Alexandr Semjonowitsch Rosanow, befindet sich im Sankt Petersburger Zentralen Staatsarchiv für Literatur und Kunst. Wir sahen die Findbücher durch, die über 700 Mappen au fl isten. Und plötzlich, Mappe Nr. 315: »Briefe an W. W. Miljutina von Muchina Jelena Wladimirowna, Künstlerin.« Sieben Briefe auf 24 Seiten aus den Jahren 1942–1984. War sie
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