Lenas Tagebuch
Zivilisten versucht zu haben, Leningrad über die deutschen Linien hinweg zu verlassen.
Die Behörden der Stadt Leningrad waren auf den Kriegsfall nicht gut vorbereitet; es gab keinerlei Pläne. Ihre Tätigkeit in den ersten Kriegsmonaten war chaotisch. Die öffentliche Ordnung suchten sie mit drakonischer Strenge aufrechtzuerhalten, was nur teilweise gelang. Polizei und Geheimpolizei agierten nicht weniger streng als vor dem Krieg, auch um – vermeintliche oder tatsächliche – Kollaborateure zu fangen. Die Angst vor den Verrätern in den eigenen Reihen spiegelt sich auch in Lenas Tagebuch. Die Tatsache, dass Leningrad eingeschlossen war, erfuhren die Menschen erst Anfang November 1941 mit der deutschen Eroberung Tichwins.
Der Winter begann 1941 früh und heftig; Brennmaterial wurde in der Stadt schon bald knapp. Die Kälte bereitete den Menschen große Probleme. Wie viele Leningrader stellte auch Mama Lena einen kleinen gusseisernen Ofen, »burschuika« oder »wremjanka« genannt, zum Heizen und Kochen mitten in den Raum. Die Versorgung mit Leitungswasser und Strom brach zusammen.
Das größte Problem aber war die Lebensmittelversorgung. Strategische Reserven waren nicht angelegt worden. In den Badajew-Lebensmittellagern, deren Zerstörung durch die deutsche Luftwaffe auch Lena erwähnt, lagerten nur Vorräte für ein paar Tage und keineswegs, wie es über Jahrzehnte behauptet wurde, Mengen, die die Bevölkerung über einen längeren Zeitraum hätten ausreichend versorgen können.
Produktion und Verteilung von Lebensmitteln regelte seit der Kollektivierung in erster Linie der Staat. Dabei musste bereits vor dem Krieg Mangel verwaltet werden. Die Zuteilung erfolgte nach Lebensmittelkarten – dieses System galt in der Sowjetunion schon vor Ausbruch des Krieges. Die staatliche Lebensmittelversorgung teilte die Bevölkerung nach ideologischen Gesichtspunkten und nach Kriegswichtigkeit in Kategorien ein. Arbeiter erhielten die höchsten Rationen, es folgten Angestellte, nicht berufstätige Familienangehörige (Lena gehörte zu dieser Kategorie) sowie Kinder bis zwölf Jahre.
Die Leningrader erhielten monatliche Lebensmittelkarten gemäß der Kategorie, in der sie registriert waren. Der Monat war in drei Dekaden eingeteilt, die die Ausgabe von Lebensmitteln in den Kategorien Fleisch, Nährmittel (Getreide, Nudeln, Hülsenfrüchte), Fett (Butter und Öle) sowie Zucker (und Konditoreiwaren) zeitlich strukturierten; Brot gab es täglich. Auf den Karten waren die Marken als einzelne Mengenabschnitte aufgedruckt. Bei der Ausgabe von Lebensmitteln wurden die entsprechenden Marken abgeschnitten, wie es Lena in ihrem Tagebuch beschreibt.
Die Lebensmittel für Leningrad kamen in erster Linie aus den Gebieten westlich des Ural. Während des Krieges spielten Lebensmittellieferungen aus Amerika eine große Rolle. Auch Leningrad erreichten sie; Lena erwähnt in ihrem Tagebuch Konserven, Konfekt und Fleisch aus den USA und Kanada.
Für die Versorgung der Bevölkerung reichten die verfügbaren Mengen aber bei Weitem nicht aus. Die Rationen mussten nach Kriegsbeginn mehrfach gekürzt werden und erreichten nach der deutschen Besetzung Tichwins ihren Tiefstand. Das Hauptnahrungsmittel war Brot. Die niedrigsten Tagesrationen Brot im November und Dezember 1941 betrugen nur 250 Gramm für Arbeiter und 125 Gramm für alle anderen Kategorien 136 . Jörg Ganzenmüller hat als Beispiel errechnet, dass als offizielle Ration einem Familienangehörigen (wie Lena Muchina) im Dezember 1941 etwa 600 Kalorien täglich zur Verfügung standen – lediglich ein Drittel bis ein Fünftel des Tagesbedarfs eines nicht körperlich arbeitenden Erwachsenen. Die Lage verbesserte sich allmählich ab Dezember 1941. Sobald das Eis des Ladogasees tragfähig war und nach der Rückeroberung Tichwins Güter per Eisenbahn zum See transportiert werden konnten, wurde über das Eis die »Straße des Lebens« geführt, die bis April 1942 die einzige Versorgungsader der Stadt war. Von den 361 109 Tonnen der über sie transportierten Güter waren 262 419 Tonnen Lebensmittel. Ab Februar 1942 wurden die Rationen wieder erhöht, gewährleisteten aber noch immer keine ausreichende Ernährung.
Die Wirklichkeit der Versorgung war allerdings wesentlich komplexer, als es die Zahlen der offiziellen Zuteilung suggerieren. Oft waren in den Läden die Lebensmittel einfach nicht erhältlich, wie es auch Lena berichtet. Das berühmt-berüchtigte »Blockadebrot«
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