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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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Durststrecke, die schaffen wir auch. Manchmal schüttelte es uns ganz schön durch auf dem Kollerhof, aber wir hielten uns aneinander fest, und wenn es darauf ankam, fanden wir uns immer unter einer Decke.
    Wie dunkel die Holle ist, sie führt jetzt nicht allzuviel Wasser, das Hechtkraut pendelt in der Strömung, und was auf ihr hinfährt, sind nur Blätter und dünne Äste. Auf der Behelfsbrücke, das ist Niels Lauritzen, er beobachtet da etwas, treibendes Papier wird es wohl nicht sein, treibende Buchseiten wie an jenem Tag, als wir beide dort standen und keine Erklärung fanden für die Herkunft der dahinsegelnden Blätter. Ein paar von ihnen hat er herausgefischt – wir konnten gleich sehen, daß sie aus einem Buch ausgerissen worden waren –, er hat ein wenig gelesen und sie dann kopfschüttelnd zusammengepreßt und das zermatschte Papier wieder in die Holle zurückgeworfen. Warum das wohl sein mußte, Bruno, hat er gesagt. Die Sonnenblumenkerne: an einem Morgen lagen einmal fünf Sonnenblumenkerne unter meinem Kopfkissen, ich wußte nicht, wie sie dahingekommen waren, und wußte ebensowenig, was ich davon halten sollte, aber als ich meine Stecklinge untersuchte und sah, daß die sich tatsächlich gut bewurzelten, nachdem ich ihre Rinde verwundet hatte, da wußte ich es: Wer fünf Sonnenblumenkerne findet, dem wird recht gegeben bei dem, was er ausprobiert.
    Tordsen hat geschlossen, das kann ich schon von hier aus erkennen, aber das Pappschild an der Tür möchte ich doch mal nachlesen, einer wie er hält seinen Laden bis zum letzten Augenblick geöffnet, damit ihm ja nichts entgeht. Wegen Trauerfall geschlossen. Wegen Trauerfall also. Dann eben zum Bahnhof, im Wartesaal habe ich noch immer bekommen, was ich haben wollte, auch bei der neuen Pächterin, die von allen nur Marion genannt wird; manche zwinkern ihr zu oder laden sie zu einem Glas ein; berühren läßt sie sich nicht, wer sie berührt, dem schlägt sie auf die Finger. Falls sie keinen Wacholder haben sollte, wird sie mir etwas anderes verkaufen, etwas, das der Chef manchmal im Vorbeigehen einnimmt, sie wird es schon wissen. Drüben, vor unserer Verladerampe, stehen keine Waggons wie in den vergangenen Jahren, das zerschrammte Holz neigt sich schon ein bißchen, keiner hatte Zeit oder Lust, die beiden kaputten Container fortzuräumen, selbst der Chef hat sie übersehen, er, der in allem Ordnung haben will. Bald wird es auch wieder Staatsaufträge geben, und dann werden sie die Rampe richten, bald. Daß wir sie jetzt so unruhig zählen, die Zeit; früher haben wir kaum darauf geachtet, wie die Jahre sich anhäuften.
    Kein Platz, auf dem sie so oft etwas wegwerfen oder einfach fallen lassen wie auf dem Bahnhof, ob es Zigarettenstummel sind oder ungültige Fahrkarten oder Einwickelpapier – alles fliegt auf den Boden, sogar leergegessene Eistüten und Apfelgehäuse schmeißen sie einfach hin, hier, denken sie, können sie es sich erlauben, zwischen Ankunft und Abfahrt. Wie fleckig die Schwingtür ist von allen Fußtritten, die sie bekommen hat, und wie sie pendelt in der ewigen Zugluft – kein Wunder, daß Marion hustet, solange ich sie kenne. Zerdeppert die kleinen Scheiben des Süßigkeits-Automaten, vermutlich hat es einer aus Wut getan, weil der Automat nur alle Münzen schluckte und nichts hergab. Wenn der Chef hier etwas trinken wollte, dann tat er es nur im Stehen, kippte, zahlte und ging, auch wenn der Wartesaal leer war, mochte er sich nicht setzen, hier ist mir zuviel in der Luft, sagte er, und mehr sagte er nicht.
    Na, Bruno, wie immer? Die Frikadellen sind ganz frisch. Nein, heute nicht, heute Wacholder, eine ganze Flasche, und schön eingepackt. Ich seh schon an ihren traurigen Murmelaugen, daß sie keinen Wacholder hat, also dann etwas anderes, ich weiß nicht, was, wenn es nur dem Chef schmeckt. Marion nickt, sie lächelt, sie weiß schon Bescheid: Weizenkorn tut es, den hat er gern; soll es ein Geschenk sein? Ja, sage ich. Wie erstaunt sie mich mustert, wie forschend, gerade als ob ich sie enttäuscht hätte, und nun fragt sie noch einmal, ob sie mir nicht das gleiche bringen soll wie immer, und ich sage nein. Warum schüttelt sie den Kopf über mich und sieht mich so nachsichtig an, sie kennt meine Bestellung, das sollte ihr doch genügen, jedenfalls werde ich nicht vor ihrem Tresen warten. Ich komm gleich wieder. Ja, ist gut.
    Die Waage, ich möchte nur mal wissen, warum sie ausgerechnet auf dem Bahnhof eine Personenwaage aufgestellt

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