Lenz, Siegfried
würde, worauf ich jetzt gefaßt sein muß, und wenn er nur hier wäre, würde ich ihn mit Freude aufsuchen, weil er immer gut zu mir war, weil er mir angeboten hat, zu ihm zu kommen, wenn mich etwas bedrückt – aber Max, unser Krauskopf, ist fort, der älteste Sohn des Chefs ist in der Stadt und spricht da zu tausend Studenten, und wenn ich ihm schriebe, würde es ihn nur belasten. Magda hat gesagt, daß in den Zeitungen, die in der Festung herumliegen, manchmal sein Bild zu sehen ist. Bescheidener als er hat keiner hier gelebt, doch er wollte es nicht anders haben, nur Stuhl, Bett und Tisch; die Ziegelsteine und die Bretter, aus denen er seine Bücherregale machte, hab ich ihm in Hollenhusen besorgt. Er kommt nur selten zu Besuch, kommt nicht einmal zu allen großen Festen, doch wenn er seinen Besuch angekündigt hat, bin ich schon früh auf unserem öden Bahnhof, um ihn abzuholen und seine Sachen zu tragen und neben ihm herzugehen und mit ihm zu sprechen: das allein lohnt sich schon. Unterläuft es mir einmal, daß ich ihn mit seinem Titel anspreche, dann verwarnt er mich spaßhaft und erinnert mich daran, wieviel Vergangenheit wir teilen – und er sagte sogar: welch einen Reichtum an Vergangenheit wir teilen –, und wenn ich’s auch umgehe, ihn direkt anzusprechen: in Gedanken nenne ich ihn Max, so, wie er es will.
Weil keiner damit gerechnet hat, daß sie den Chef entmündigen lassen könnten, hab ich mir auch kein Verzeichnis der Verstecke angelegt, in denen ich aufbewahre, was niemanden etwas angeht und was mir einmal helfen soll, unabhängig zu sein und alles, worauf ich Wert lege, noch einmal zu erleben. Das Geld jedenfalls, oder doch den Teil, den sie mir auszahlen, hab ich hinten beim Wacholder vergraben; da ist es sicher, weil sie nur jeden zweiten Winter dort herumtrampeln, wenn sie mit dem Mähnenkamm die Früchte ernten, auskämmen, ja. Was das Land hergab, all die Fundstücke, die an Generationen von Soldaten erinnern, hab ich auf mindestens drei Verstecke aufgeteilt, die Patronen und Hülsen und Splitter liegen am Rand der Grube, aus der wir früher den Sand zum Vorkeimen holten, die metallenen Knöpfe, die Münzen, die Kokarden und das Seitengewehr müssen bei den Schmucktannen vergraben sein, desgleichen die Handgranate und das Koppelschloß, nur die beiden Trillerpfeifen an geflochtener Schnur, die hab ich hier unterm Kopfkissen. Wo das Quartier der hochstämmigen Linden endet, hab ich alles in der Erde verwahrt, was Max mir einst schenkte und was Joachim und Ina mir zusteckten – damals, als ich bei ihnen war. Es sind fast ausnahmslos Geschenke des schlechten Gewissens, mit denen sie sich loszukaufen versuchten, wenn sie etwas auf mich abgewälzt hatten; ah, ich weiß noch, wofür ich die Mundharmonika bekam und das Messer mit Korkenzieher und von Ina den kleinen Kasten mit Buntstiften, ich weiß es noch und kenne die Anlässe. Wenn ich gehen muß, werde ich alle Verstecke räumen, nichts soll zurückbleiben, denn eines Tages möchte ich alles um mich herum ausbreiten, und ich möchte jedes Ding einzeln in die Hand nehmen, es einfach reden lassen und mich dabei erinnern. Vorsicht, jetzt ist Vorsicht geraten: was Magda mir anvertraut hat, darf nicht unter die Leute kommen, nicht unter die aus Hollenhusen, die jetzt gern bei uns zur Arbeit erscheinen – manche aus dem Nest leben heute nur vom Chef, all diese Knurrhähne, die ihn in den ersten Jahren nur mit Mißtrauen und ihrem bedächtigen Spott begleitet haben –, und auch unter die Fremden nicht, für die der Chef ein schönes hölzernes Wohnhaus hat bauen lassen. Ich werde mir jedes Wort verkneifen, denn es läßt sich wohl absehen, was an Gerücht und Nachrede umlaufen wird, wenn die Leute aus Hollenhusen es erst einmal erfahren haben, und dann lassen sich auch die Bestürzung und die Furcht voraussagen, die sich unter Elef und seinen Leuten verbreiten wird, denn der Chef selbst war es, der ihnen den Weg aus ihrer Heimat zu uns geebnet hat. Elef ist der einzige, der seine Schirmmütze abnimmt, wenn er mit mir spricht, und wenn ich ihn in seinen verbeulten Röhrenhosen von weitem sehe, umgeben von ein paar anderen Schirmmützen und übergroßen Kopftüchern, dann entsteht immer in mir der Wunsch, einmal von ihm eingeladen zu werden.
Am liebsten möchte ich Magda noch einmal rufen und mir wiederholen lassen, was sie gesagt hat, denn es will und will mir nicht gelingen, ihre Nachricht zu glauben und mich mit ihr abzufinden. Zahlreich
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