Lenz, Siegfried
bis ich ganz unsicher werde beim Umtopfen oder Ausschneiden, ganz zittrig. Gösselchen haben sie ihn früher genannt, weil er so zart war und eine so empfindliche Haut hatte. Er wäre gewiß froh, wenn ich fortginge.
Es lohnt sich wohl nicht, auf den Schlaf zu warten, erst muß der Nachtzug vorbei; erst wenn ich den Pfiff seiner Lokomotive gehört habe, werde ich einschlafen können. Am leichtesten schlafe ich ein, wenn ich an den Wind in den Tannen denke, wie er da sacht hindurchgeht, oder wenn ich an den stillen Exerzierplatz denke, über dem zwei Bussarde kreisen in der warmen Luft, ohne Flügelschlag. Oft gelingt es mir gar nicht, zu denken, jetzt schlafe ich ein, weil ich bereits eingeschlafen bin und vielleicht schon träume, daß ich am Grund des Memelflusses liege und hoch über mir langsame, gedrungene Wolken sehe, prall wie Kartoffelsäcke. Es kann nicht mehr lange dauern bis zum Pfiff der Lokomotive.
Wenn unser Vorarbeiter Ewaldsen sieht, wie ich mir schnell ein paar Samen in den Mund stecke, dann droht er mir, oder er verzieht das Gesicht und wendet sich ab. Er droht mir nur spaßhaft, denn er ist gutmütig und nachsichtig wie kaum ein anderer, und er verzieht sein Gesicht, weil er wohl glaubt, daß die Samen bitter oder faulig schmecken, einige gärig. Er meint, ich müßte einen Drosselmagen haben, weil bei mir alles folgenlos bleibt; kein Schaum platzt mir aus den Mundwinkeln, meine Pupille wird nicht starr, und ich wälze mich auch nicht in Krämpfen. Ich, Bruno, hat er gesagt, wäre schon längst krepiert, wenn ich all die Schoten und Kapseln geschluckt hätte, die du geschluckt hast. Zugegeben, einige Samen machen schwindlig, andere verursachen ein Brennen auf der Haut, und wenn ich den Fruchtfleischsamen von Liguster, Taxus und Berberis esse, den wir immer leicht anrotten lassen, dann zirpt und tickt es in meinem Kopf wie von hundert Zikaden. Geschadet hat mir aber noch nichts. Gern esse ich den Samen aus den Nadelholzzapfen, solange er noch nicht entflügelt ist; ich habe dann manchmal das Gefühl, daß meine Stimme sich stärkt und schwillt und immer mehr Wörter zu meiner Verfügung sind, während ich nach dem Genuß von Spirea und Magnolie, deren Samen vor der Saat ja nicht trocken werden darf, einfach ruhig in einem Boot zu gleiten glaube, an bekannten Ufern vorbei. Bruno, Bruno, sagt unser Vorarbeiter Ewaldsen, halt dich nur ein bißchen zurück, damit noch etwas für die Saatbeete übrigbleibt.
Hier von den Saatbeeten aus habe ich die Festung immer im Auge, doch noch ist keiner erschienen, auf den Wegen nicht und nicht auf der Terrasse, der Dunst hat sich schon ganz gehoben, und in den oberen Fenstern glänzt die Sonne. An einem gewöhnlichen Tag wäre der Chef längst bei uns gewesen, hätte mir über den Kopf gewischt, hätte uns etwas vorgemacht im Saatbeet, hätte sich bestimmt nach Ewaldsens kranker Frau erkundigt und wäre nach einem Lob für uns beide weitergegangen, fortgezogen von seinem Bedürfnis, überall dabei zu sein. Jetzt aber will und will er nicht kommen, vielleicht hält ihn der Vormund zurück, den sie für ihn bestellt haben, ich weiß es nicht.
Unser Vorarbeiter Ewaldsen hat nur erstaunt zu mir herübergesehen, als ich ihn fragte, wozu man einen Vormund braucht; er mußte erst nachdenken, und auch dann sagte er nicht mehr als: Du stellst vielleicht Fragen, Bruno. Aber plötzlich, als hätte er sich an einen bestimmten Fall aus Hollenhusen erinnert, fiel ihm doch eine Antwort ein, und er sagte, daß sie einem bei Geistesschwäche oder Trunksucht oder gewissen Gebrechen einen Vormund bestellen können; da muß sich erst allerhand aufsummen, hat er außerdem gesagt. Ich bin jetzt noch ratloser, denn ich weiß genau, daß man dem Chef nichts davon nachsagen kann; der ist immer noch sein bester Vormund und steckt alle hier in die Tasche. Wenn ich unserm Vorarbeiter Ewaldsen auftischte, was Magda mir erzählt hat, dann würde er wohl nur eine wegwerfende Handbewegung machen und weiterarbeiten, seit siebenundzwanzig Jahren ist er beim Chef, nur vier Jahre weniger als ich, und darum wird er nur das glauben, was seine Erfahrung zuläßt.
Nein, keiner ist länger beim Chef als ich, keiner hat es auf einunddreißig Jahre gebracht. Am Anfang hab ich noch für jedes Jahr eine Kerbe in meinen schönen Kaddikstock geschnitten, ich hatte ihn für meine Eltern gedacht, ich wollte ihnen den Stock an dem Tag schenken, an dem sie in Hollenhusen auftauchten, um mich abzuholen, doch sie
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