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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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sind ja die Möglichkeiten für Mißverständnisse: ein verstümmelter Satz, die Ungenauigkeit, mit der einer in der Erregung hört, ein gewisser Blick und ein absichtsloses Schweigen können schon für einen Irrtum sorgen; so hab ich mich auch schon selbst geirrt, viele Male. Ich kann es einfach nicht glauben, daß man dem Chef einen Vormund bestellt hat, der nun für ihn denkt und unterschreibt; denn selbst wenn sie einen Vormund für ihn in Schleswig finden sollten, wird der nicht in der Lage sein, dem Chef das Wasser zu reichen, ihm, der mehr im kleinen Finger hat als alle Vormunde zusammen in ihren Händen. Keiner weiß mehr als er, der nur ein Blatt, einen Ast in die Hand zu nehmen braucht, um schon alles durchschaut zu haben, niemand kennt wie er die Geheimnisse der Bäume und Pflanzen.
    Der Vormund sollte den Chef nur einmal durch unsere Kulturen begleiten, er sollte mit ihm durch die Quartiere gehen wie ich, und einem gesprächsbereiten Chef zuhören, der ihm nachweist, daß alles, was wächst, seinen vorbestimmten Feind hat, den anderen, der eigens für ihn gemacht ist, der wartet und zustößt und dann für das Sterben sorgt. Zuerst wollte ich es dem Chef kaum abnehmen, doch er bewies mir, daß jede, aber auch jede Pflanzengattung ihren ureigensten, intimen Feind hat, und da wir bei den Kiefern waren, sagte er: Nimm nur die Kiefern, Bruno; und dann sprach er vom Kieferntriebwickler, vom Kiefernknospenwickler oder vom Kiefernquirlwickler, unersättlichen Raupen, die in Harzgehäusen leben und junge Triebe und Knospen anfallen. Er zählte mir alle Schädlinge auf, die sich nur an die Kiefer halten, von den Kiefernzweigläusen bis zur Kiefernbuschhorn-Blattwespe, er kennt alle Feinde der Kiefer, er weiß aber genau so gut, was den Laubgehölzen droht, jeder einzelnen Art, jeder. Wohin wir auch kamen bei unserem gemeinsamen Gang über das Land, und worauf ich auch – mitunter in prüfender Absicht – zeigte: die innigsten Feinde jeder Gattung fielen ihm ohne Anstrengung ein, und während es in meinem Kopf schon nachhallte von den Namen, die er nannte, erwähnte er immer neue, sprach vom Eschenrüßler und der Fliedermotte. Hundert Namen hat er zumindest genannt, das regnete nur so auf mich herunter, Birnblattsauger, Pappelbock und Eichenwickler, und weil ich zuletzt nur noch versucht war, mir die Namen einzuprägen, bekam ich nicht mehr mit, für welche Schadbilder diese Rüßler und Wickler verantwortlich sind, was sie verspinnen oder welken lassen oder skelettieren. Jedenfalls, das würde mich schon interessieren: wie lange ein Vormund noch Vormund sein möchte nach einem Gang mit dem Chef, nach einem Gespräch über intime tödliche Feindschaft, mich würde das schon interessieren.
    Ich muß den Riegel vorlegen, obwohl ich mich auf die beiden Sicherheitsschlösser verlassen kann, ist es wohl besser, heute zusätzlich den eisernen Riegel vorzulegen, denn die Spuren, die wie immer aus dem Birkenquartier kommen, führen auf mein Fenster zu, Spuren von nackten Füßen, deren Herkunft keiner enträtseln, deren Ziel keiner bestimmen wird. Sie beginnen plötzlich und enden plötzlich, gerade so, als ob der, der sie hinterlassen hat, sich an einem Seil herabließ und, wenn er es für richtig hielt, an einem Seil wieder emporzog, hoch in die Lüfte. So oft ich die Spuren auch verfolgte: am Ende wußte ich nur soviel, daß dem, der uns seine Spuren hinterließ, am rechten Fuß die große Zehe fehlte, der Abdruck der Ferse ist allemal genauer und aufschlußreicher.
    Ich hab dem Chef nicht erzählt, daß die Spuren mehrmals von meinem Fenster zur Festung hinüberführten, nach leichtem Regen habe ich’s entdeckt, aber auch wenn der Tau den Sommerstaub auf der Terrasse befiel, die Spuren führten jedesmal über den Grashügel an den Rosenbeeten vorbei zu den drei Linden, von wo aus man in die Zimmer sehen kann, in denen Ina mit den Kindern wohnt. Selbst wenn ich dem Chef die Spuren zeigen könnte, würde er doch nur sagen, was er immer sagt: Du denkst zuviel, Bruno, und dein Denken bringt dir nichts ein als Unruhe. Und wie ich ihn kenne, würde er mir freundlich mit einer wischenden Bewegung über den Kopf fahren, so als könnte er dadurch mein Denken besänftigen und mich von der Unruhe heilen.
    Es war nicht der Pfiff der Lokomotive, der die Saatkrähen im Schlaf gestört hat, es muß etwas anderes gewesen sein, das sie in ihren zerzausten alten Kiefern am Bahndamm erschreckt hat; warnend schwangen sie von ihren

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