Lenz, Siegfried
Chef nur selten erlebt wie damals, als der alte Lauritzen ihm das Dänenwäldchen überließ mit allen Rechten, diesen düsteren, vom Windbruch entstellten und von Fremden kaum begangenen Forst. Weil man bei seltenem Nordwind die schwachen Klagen verwundeter dänischer Soldaten hören konnte, die sich vor hundert Jahren hier verborgen hatten, ging ich oft da hinunter und saß auf einem Stubben oder lag im Gras und wartete auf das Gestöhn, das Ächzen. Als mich der Hund des Chefs in einer Kuhle aufspürte, hab ich mich auf wer weiß was gefaßt gemacht, doch der Chef hat mich nur freundlich am Ärmel gezogen und zu einer gestürzten Fichte geführt. Wir haben uns da hingesetzt und ein bißchen aus seiner Flasche getrunken, und dann erschrak ich ein wenig, weil er mich plötzlich fragte, ob ich zufrieden sei. Nie zuvor hat er mich so etwas gefragt, er, dem ich alles verdanke, die erste Rettung nach dem Untergang des großen Landungsprahms und die zweite Rettung nach dem Unglück des Raddampfers »Stradaune«. Ich muß ihn wohl verwirrt angesehen haben, denn er winkte lächelnd ab und lenkte meinen Blick auf das wilde Wachstum des Dänenwäldchens und sagte: Siehst du, Bruno, die Natur vergißt nie, daß sie einmal Wildnis war; wir müssen aber verhindern, daß sie sich allzu oft daran erinnert.
Und dann hat er wieder einmal von den unübersehbaren Kulturen im Osten erzählt, die einst seinem Vater gehört hatten, von dem kargen Land am Rand der Rominter Heide, auf dem sie die widerstandsfähigsten Nadelgehölze zogen; karge Böden sind manchmal gute Böden. Ich könnte ihm tagelang zuhören, wenn er von dieser Zeit erzählt, von den Wintern dort, von den Pflanzplänen, von dem Wolf, den er erlegte. Manchmal habe ich das Gefühl, schon damals bei ihm gewesen zu sein, obwohl ich genau weiß, daß ich von noch weiter her komme, vom Memelfluß, der alles lautlos in sich hineinzog, alles, was ich vom Ufer aus hineinwarf. Wir saßen lange auf der gestürzten Fichte, der Chef und ich, und als er fand, daß er genug erzählt hätte, schlug er mir auf den Rücken, und dann gingen wir nebeneinander durch das Dänenwäldchen, das ihm bei bestimmter Gelegenheit zugeschrieben wurde, als Versöhnungsgeschenk. Er war sehr froh. Hin und wieder stieß er mit der Fußspitze mutwillig in den Boden. Bevor wir aus dem Wäldchen traten, ließ er mich noch einmal ein wenig trinken, und als ich ihm die schmale Flasche zurückreichte, sagte er: Glaub mir, Bruno, wer auf Sicherheit aus ist, der muß sich ausdehnen.
Heute wird wohl keiner mehr hierher kommen, um mir Neuigkeiten zu bringen, ich kann mich wohl ausziehen, alles fertigmachen für die Nacht. Die grüne Joppe, die der Chef mir geschenkt hat, ist mit den Jahren immer schwerer geworden, die Ärmel, scheint mir, sind noch mehr eingelaufen, und der Saum ist schon abgeschabt – dennoch trage ich sie gern, so gern wie die Rohlederstiefel, die mir Max zu Ostern mitbrachte. Einmal, als ich den Kragen der Joppe hochgeschlagen hatte – ich stand im Schatten der jungen Zedern –, haben mich Elefs Leute mit dem Chef verwechselt und schickten mir einen entgegen, der mir eine Bitte vortragen sollte; ich begriff nicht, warum sie sich über ihren Irrtum so freuen konnten. Was ich ins Futter eingenäht habe, geht keinen etwas an, die leere Schrotpatronenhülse wird nie einer zu sehen bekommen. Meine Hosen; ich weiß nicht, warum ich mehr Hosen als Jacken auftrage, auch die dunkle, die die Frau des Chefs mir geschenkt hat, ist schon wieder ausgefranst, wirft Beutel über den Knien und ist so dünngescheuert, daß ich bald Flicken aufsetzen muß. Mit Strümpfen komme ich noch am besten aus, weil ich den ganzen Sommer hindurch keine trage.
Das ist Joachim: der Schein seiner Taschenlampe wandert über Beete und Kulturen, ruht auf den Wegen, schwenkt zu den Gebäuden hinüber, die, seit er das Sagen hat, geschlossen werden müssen. Er ist auf seinem letzten Kontrollgang, wie fast jeden Abend. Nicht zu Max, der immer beiseite stand, faßte der Chef Zutrauen, sondern zu Joachim, der wohl schon unzufrieden auf die Welt kam, und der mich nur immer kopfschüttelnd stehen läßt, als ob mit mir gar nichts anzufangen wäre. Selbst an solch einem Tag möchte er auf seinen Kontrollgang nicht verzichten; wenn es nach ihm ginge, würde er uns allen hier wohl gern das Kommando zum Einschlafen geben, ein leises Kommando, denn er ist kein Mann der lauten Worte. Mitunter kann er mich so lange schweigend ansehen,
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