Léonide (German Edition)
er mich an – ein allzu langer Blick, der mich innerlich erstarren lässt – und neigt leicht den Kopf. »Léonide.«
Als die Droschke das Ende der Straße erreicht hat und hi n ter einer Biegung verschwunden ist, überkommt mich ein G e fühl des Verlusts. Wie wird es sein, meinen Bruder in Saint-Rémy wiederzusehen? Wird er derselbe sein oder ein anderer? Und kann man ihm dort überhaupt helfen?
Ich schüttle den Gedanken ab. Ganz gleich, was geschieht, es liegt nicht in meiner Hand, dort lag es nie, dort wird es nie li e gen. Dennoch stehe ich noch lange, nachdem die Kutsche hi n ter der Biegung verschwunden ist und meine Eltern zurück ins Haus gegangen sind, vor unserem Haus . D er Himmel verdu n kelt sich, Regentropfen rinnen über mein Gesicht, und ich denke an nichts.
Am nächsten Tag schwingt das Wetter um und aus der dr ü ckenden Schwüle und dem Nieselregen wird ein Gewitte r sturm. Den ganzen Morgen sitze ich zu Hause und beobachte, wie der Regen gegen die Fensterscheiben prasselt. Mein Vo r haben, Willem gleich heute in Saint-Rémy zu besuchen, muss verschoben werden.
Doch am Nachmittag wird meine Lethargie von einem B e such Frédérics durchbrochen, der auf dem Weg nach Saint-Paul-de-Mausole ist und mir anbietet, ihn zu begleiten. Inzw i schen ist aus dem Regen ein beständiges Nieseln geworden, weshalb meine Eltern nichts dagegen einzuwenden haben.
Als wir das Haus verlassen, bin ich erleichtert. Ich habe es noch nie lange hinter Mauern ausgehalten – ich brauche den weiten Himmel über und die endlose Landschaft vor mir, um mich der Welt zugehörig zu fühlen.
Frédéric schlendert lächelnd zum Wagen. Das Licht verfängt sich wie die dünnen Fäden eines Spinnennetzes in seinem Haar und gibt ihm eine kastanienbraune Färbung, die ich noch nie zuvor bemerkt habe.
»Wenn ich Sie so anschaue, bekomme ich den Eindruck, S ie würden alles tun, um den nahenden Herbst in seine Schranken zu weisen.«
»Sie haben r echt .« Ich steige in die Droschke. »Regen bede u tet, dass der Winter kommt, was ich von Jahr zu Jahr zu ve r drängen versuche.«
Frédéric schließt die Kutschentür und das Gefährt setzt sich holpernd in Bewegung.
»Sie sind wie Ihr Bruder«, sagt er. Als er aber meinen G e sichtsausdruck sieht, rudert er zurück. »Ihr Bruder, wie er fr ü her war, vor seiner Krankheit. Ich erinnere mich daran, wie er ganze Tage draußen verbracht hat, um zu malen, während die Sonne ihm die Haut von den Knochen brannte. Trotzdem ha t te er nie einen Sonnenstich.«
Ich lächle. »Er geht nie ohne seinen Strohhut. Den habe ich ihm zu seinem sechzehnten Geburtstag geschenkt .« Ich eri n nere mich, wie stolz ich war, als ich ihm das Geschenk übe r reichte. Er hat nie vergessen, den Hut zu tragen.
»Wie alt sind Sie, Léonide?«, fragt Frédéric.
»Neunzehn.«
Das scheint ihn zu überraschen.
Danach schweigen wir, aber es ist eine einvernehmliche Sti l le, keine unangenehme. Frédéric ist ein schweigsamer Mann, was mir nur recht ist, denn auch ich bin keine Freundin übe r flüssiger Worte.
Während wir fahren, betrachte ich ihn von der Seite. Er wirkt noch immer übermüdet, aber die Ringe um die Augen sind nicht mehr ganz so dunkel wie gestern. Sein dunkles Haar und seine Augenfarbe stehen in auffälligem Kontrast zu seiner Haut, was die Ecken seiner Wangenknochen, den Schwung seiner Augenbrauen, Nase und Lippen umso deutlicher he r vortreten lässt.
Als ich bemerke, dass meine Blicke Frédéric nicht entgehen, sondern dass er sie nur diskret übersieht, stelle ich ihm hastig eine Frage.
»Sie haben gesagt, ich sei wie mein Bruder. Meinen Sie, dass seine Krankheit – dieser Hang zu geistiger Verwirrung – auch in mir steckt?«
In Frédérics Augen tritt ein merkwürdiger Ausdruck. »Ich hoffe nicht.«
Ich sehe ihn nicht an, als ich erwidere: »Versprechen Sie mir, dass Sie mich behandeln, sollte es jemals so weit kommen?«
»Ich verspreche es«, antwortet Frédéric.
Wir erreichen Saint-Paul-de-Mausole nach eineinhalb Stu n den Fahrt über nasse Straßen und holprige Wege. Als wir aus der Kutsche steigen, fühle ich mich, als hätte ich einen meh r stündigen Marsch durch unwegsames Ackerland unterno m men. Dann aber rieche ich die Lavendelfelder, die Obstbäume und Oleandersträucher und erkenne die blaue Bergkette der Alpillen, selbst durch den Regen hindurch. Ich atme die schwüle Luft ein und schließe für einen Moment die Augen . I n meinem Inneren kommt etwas, das
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