Léonide (German Edition)
ich schon längst verl o ren geglaubt habe, zur Ruhe.
Das Kloster ist schlicht und weiß. Langsam gehe ich durch den Kreuzgang mit seinen Pfeilern und Doppelsäulen. Aus dem Stein scheinen Blätter zu wachsen, Blüten, Tierköpfe und fremdartige Gesichter. Das Zentrum von allem bilden mehrere Beete, die mit Feldblumen bepflanzt sind: weiß und blau, vi o lett, rot und gelb.
»Sie kennen die Abtei noch nicht?«, fragt Frédéric, der neben mir den Gang entlangschlendert .
»Wir hatten in meiner Familie bisher noch keine anderen Fälle von Geisteskrankheit«, gebe ich trocken zurück. Frédéric lacht – ein warmer Laut, der mich ein wenig überrascht und dem ich so lange hinterherlausche, bis er im Kreuzgang ve r hallt ist.
Als wir um eine Ecke biegen, kommen uns drei Schwestern entgegen, die uns zwar freundlich grüßen, aber eilig weiterg e hen. Frédéric wendet sich schließlich an eine jüngere Schwe s ter, die sich die Zeit nimmt, uns zu Willem zu führen. Sie wirkt unerfahren und hält d en Kopf während des gesamten G e sprächs gesenkt. Schließlich öffnet sie eine der vielen Holzt ü ren auf dem Gang und bedeutet uns, hineinzugehen.
»Es geht ihm ein wenig besser. Rufen Sie, wenn Sie noch e t was brauchen.«
Der Raum gleicht einer Zelle und ist spärlich eingerichtet. Es gibt ein Metallbett, ein Schreibpult samt zwei Holzstühlen und einen mit hellem Stoff bezogenen Sessel. In einer Ecke stehen Willems Staffelei und sein zerbeulter Reisekoffer. Obwohl er erst seit einem Tag hier ist, riecht es schon nach Ölfarbe, Staub und Schweiß – den drei Gerüchen, die ich schon immer mit meinem Bruder verbunden habe.
Willem steht am Fenster und betrachtet durch die Gitterst ä be hindurch die regennasse Landschaft. Anfangs scheint er uns nicht zu bemerken, dann aber dreht er sich zu uns um. Lächelt. Man hat ihm einen frischen Verband angelegt, und diesmal ist kein Blut darauf zu sehen.
»Léo.« Willem fällt mir in die Arme. Ich halte ihn fest, ganz fest, bis ich das Gefühl habe, der Raum um uns herum lös t sich auf. Als wäre außer Willem nichts mehr von Bedeutung, Wi l lem und mir. Dann aber löst sich mein Bruder wieder von mir, begrüßt auch Frédéric und bietet uns den Sessel und e i nen der narbigen Holzstühle an.
Frédéric lehnt lächelnd ab. »Ich wollte nur sichergehen, dass Sie in guten Händen sind. Wenn ich Sie mir so ansehe, komme ich zu dem Schluss, dass meine Sorgen überflüssig waren.« Er wendet sich an mich. »Ich warte draußen, Léonide. Lassen Sie sich Zeit, ich spreche solange mit einem der Ärzte.«
Nachdem Frédéric gegangen ist, herrscht für einen Auge n blick ein beinahe unangenehmes Schweigen. Vielleicht ist es der Ort, vielleicht auch Willems Krankheit, die wie ein Scha t ten über uns schwebt. Ich habe das Gefühl, meinem Bruder nie zuvor so fremd gewesen zu sein.
»Ich hoffe, sie behandeln dich anständig?« Mit ›sie‹ meine ich alle Ärzte und Schwestern der Nervenheilanstalt.
Willem setzt sich auf die Kante seines Betts und reibt ne r vös über den Verband. »Sie gefallen mir«, sagt er. »Die meiste Zeit lassen sie mich in Ruhe. Sie haben gesagt, dass sie mich zweimal die Woche baden werden – sie nennen das › Hydroth e rapie ‹ . Ich darf Spaziergänge machen und malen, so viel ich will, solange ich mich nicht weiter vom Kloster entferne, als ich in einer Stunde zu Fuß zurücklegen kann. Ich werde mehr Leinwände brauchen, Léo.«
»Ja. Das wirst du.« Ich lächle. »Meinst du, du kannst es eine Weile hier aushalten?«
Sein verbliebenes Auge schließt sich, als bereite te das Licht ihm Schmerzen. »Ich weiß nicht. Es ist ein stiller, einsamer Ort. Ich soll mich von den anderen Patienten fernhalten, h a ben sie gesagt. Ich werde überwacht.« Er macht eine Pause, ehe er leiser fortfährt: »Ich bin hier ein Gefangener, Léo.«
»Ich weiß.« Ich setze mich neben ihn aufs Bett und lege eine Hand auf seine Schulter. »Meinst du, du wirst zurechtko m men? Wenn ich dafür sorge, dass du Leinwände und Farben und alles andere bekommst, was du brauchst?«
Er nimmt meine Hände, die sich in seinen schwieligen, braunen viel zu klein anfühlen. »Ich hoffe, ich kann bald wi e der nach Hause.«
Ich streiche über einen Fleck eingetrockneter weißer Ölfarbe auf seinem Daumenballen. »Das wirst du.«
Danach wechseln wir das Thema. Willem ist fast wieder er selbst; zwar zeugen seine Schwäche und der Verband um sein Auge noch immer von seiner Krankheit,
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