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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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jede Iris eine andere Farbe. Seelen. Körper!«
    Die Stimme lässt mich alles um mich herum, sogar mich selbst verge s sen, durchtrennt den Faden, der mich an meinen Körper bindet. Sie zeigt mir Ewigkeit und Verfall, Schönheit und Trauer, Zufriedenheit und Hunger. Die Flut der Bilder überwältigt mich, sticht mir ins Fleisch, mahlt meine Knochen. Es fühlt sich an, als würde mein Schädel zerpla t zen. Das Gefühl lässt mich zusammenbrechen.
    »Mein Sohn, Freund, Diener … «
    »Sei still«, schluchze ich, kauere mich auf dem Boden zusammen und umklammere meinen Kopf, als könn t e ich mich so vor der Bilderflut schützen. Nein, ich begreife jetzt: Sie ist in mir und ich kann nichts gegen sie tun. Sie brennt sich in meine Augenlider, ohne dass ich es verhindern kann. Die Stimme kann Bilder erschaffen und zerstören, kann gleiche r maßen Schmerzen und Trauer verursachen, wie sie einem die Schönheit der Welt eröffnen kann. Mir aber – mir ve r ursacht sie nichts als Qual, und ich lasse den Kopf auf den kalten Stein sinken und flehe erst zu der Stimme, dann zu Gott, ehe ich vom Rand der Welt falle und die Du n kelheit mich zu sich nimmt.
     
    In dieser Nacht schlafe ich schlecht, denn ich werde von Al b träumen heimgesucht, zum ersten Mal seit mehr als einer W o che. Während ich im Inneren meiner Angst ausgeliefert bin, bleibt mein Körper reglos, unbeteiligt.
    In meinem Traum stehe ich vor einer Mauer aus weißem Stein, die mir bekannt vorkommt und die im spärlichen Licht einer Gaslaterne badet. Neben mir steht eine Gestalt in Schwarz, deren Gesicht ich durch die Dunkelheit, mit der sie sich einhüllt, nicht erkennen kann. Sie schaut nach oben zu einem der Fenster oberhalb der Mauer. Ich folge ihrem Blick und erkenne, wenn auch nur verschwommen, den Umriss e i nes anderen.
    Ich blicke zurück, angelockt von einem Geräusch, das ich kenne und das mich an Zuhause erinnert, an warme Somme r abende, an tiefen, fast ohnmächtigen Schlaf. Im Licht der Ga s laterne schwirren Motten mit dunkel gepanzerten Körpern, auf deren Puderflügeln sich schwarze und graue Muster a b zeichnen und die die Luft mit einem sonoren Brummen erfü l len. Aus der Ferne höre ich den Ruf eines Kauzes und das Fauchen von Katzen. Ihre Pfoten bewegen sich unruhig über das Pflaster, und sie stoßen tiefe Drohg e sänge aus.
    Die Gestalt neben mir hebt die Hand und murmelt Worte, die ich nicht verstehe. Ihr Blick ist noch immer auf die Person im Fenster gerichtet, die aufrecht hinter den Gitterstäben wa r tet und geduldig beobachtet, was unter ihr geschieht. Um i h ren Kopf ist etwas Weißes geschlungen, das sich von ihrem dunklen Gesicht abhebt.
    Da bricht aus dem Mund meines Begleiters etwas hervor: e i ne Stimme wie Silber und Tränen, gleißend und zugleich b e drückend. Die Geräusche verdichten sich zu einer Sinfonie . D as Flattern der Mottenflügel, die Schreie der Katzen; das Si n gen des Regens, das Rauschen des Windes in den Bäumen und im dichten Teppich der Lavendelfelder; der Lockruf des Käuzchens. Die Geräusche fügen sich zu einem Bild zusa m men, doch es klingt nicht ganz richtig – als hätte sich hinter seiner Vollkommenheit etwas Misstönendes eingeschlichen oder als fehl t e ein letzter, entscheidender Ton. Als er schlie ß lich erklingt und das Bild vervollständigt, durchläuft mich ein Zi t tern.
    Es ist der Schrei eines Mannes und kommt aus Richtung des Fensters. D ie Gestalt hinter den Gitterstäben bricht zusa m men . Die Gesänge der Katzen werden zu jämmerlichem Fl e hen; der Ruf des Käuzchens verstummt; die Motten fallen aus dem Lichtkegel der Gaslaterne.
    Dann wendet sich mein Begleiter an mich und ich falle.
     
    Der Albtraum ist keiner von der Sorte, aus der ich schreiend und schweißgebadet erwache; ich schrecke nicht aus dem Schlaf auf; mein Atem geht weder keuchend noch unregelm ä ßig.
    Ich bin wie gelähmt vor Schreck. Die Schatten in den Ecken meines Zimmers dehnen sich aus zu etwas Großem, Schwa r zem. Noch immer hallt die Stimme der Traumgestalt in me i nen Gedanken nach, in meinen Ohren dröhnt das bizarre Konzert der Tiere und Insekten. Erst Stunden später, als die Farbe des Nachthimmels in leuchtendes Blau übergeht, gelingt es mir, wieder einzuschlafen.

Totentanz
     
     
    Arles, September 1888
     
    D
    ie nächsten Wochen bringen keine Bess e rung für Willem. Ich fühle mich, als würde ich unter einer Glasglocke in einem Dunst leben , der meine Sicht auf die Welt ve r schleiert und

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