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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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und sagen, dass nun endlich alle sehen könnten, wer sie wirklich war, eine Waise. Sie hatte sich versteckt, jahraus, jahrein, keinen Mucks gemacht und immer nur zur Tür geblickt und gewartet. Auf die Worte ihrer Freundinnen geachtet und nach einem Tonfall gesucht, der zu erkennen gab, dass sie entlarvt worden war. Die Scham, die Angst, die Art, wie sie sich selbst zu schützen versuchte, wirkten auf die anderen arrogant. Und sie wusste, dass sie ihre Rolle als reiches, perfektes, verwöhntes und sorgloses Mädchen übertrieb. Sie war weder schön noch brillant wie die anderen Mädchen in ihrem Umfeld, die mit nonchalanter Selbstsicherheit ausriefen »Ich hab ja keine Ahnung«, wohl wissend, dass das, was sie nicht wussten, kaum von Belang sein konnte und dass die Welt von ihnen ohnehin nicht mehr erwartete, als schön zu sein. Also musste sie so tun als ob. Als ob sie schön wäre, brillant und über alles erhaben. Doch sie war das alles so leid. Hätte sich am liebsten einfach in Tonys Auto gesetzt und ihn gebeten, mit ihr wegzufahren. An einen Ort, an dem sie die eine, echte Lene sein konnte und nicht die zwei falschen Personen, die einander hassten. Tracy Chapman sang, dass sie gemeinsam, Tony und sie, ans Ziel gelangen konnten.
    Das Spiegelbild auf dem Glas bewegte sich. Lene zuckte zusammen, als sie erkannte, dass das Gesicht nicht mehr ihres war. Sie hatte sie nicht kommen hören. Lene richtete sich auf und nahm die Ohrenstöpsel heraus.
    »Stell den Kaffee dahin, Nanna.«
    »Du solltest ihn vergessen, Lene.«
    »Ach, hör auf.«
    »Ich meine ja nur. Er war kein guter Mann für dich.«
    »Hör auf, sage ich!«
    »Psst!« Die Frau stellte das Tablett laut und klirrend auf den Tisch. Ihre türkisfarbenen Augen blitzten. »Du musst zur Vernunft kommen, Lene. Das mussten wir in diesem Haus alle, wenn die Umstände es von uns verlangten. Ich sage das bloß als deine …«
    »Als meine was?«, schnaubte Lene. »Sieh dich doch an. Was kannst du schon für mich sein?«
    Die Frau strich mit den Händen über ihre weiße Schürze und wollte Lene die Hand auf die Wange legen, aber Lene wedelte sie weg. Das Seufzen der Frau klang wie ein Tropfen in einem tiefen Brunnen. Dann drehte sie sich um und ging. Als die Tür hinter ihr zuschlug, klingelte das schwarze Telefon, das vor Lene auf dem Tisch lag. Ihr Herz stockte. Seit Tony verschwunden war, hatte sie ihr Handy nicht mehr ausgeschaltet und immer in Reichweite. Sie nahm es und meldete sich: »Lene Galtung.«
    »Harry Hole, Morddezer… Äh, Kriminalamt. Tut mir leid, dass ich noch einmal stören muss, aber ich muss Sie wegen einer Sache um Hilfe bitten. Es geht um Tony.«
    Lenes Stimme drohte sich zu überschlagen, als sie antwortete: »Ist … ist etwas passiert?«
    »Wir suchen nach einer vermutlich abgestürzten Person unter einem Felsvorsprung in den Bergen bei Ustaoset …«
    Ihr wurde schwindelig, und der Fußboden schwang plötzlich nach oben, während die Zimmerdecke sich nach unten bewegte.
    »Wir haben sie noch nicht gefunden. Es hat geschneit, und das Suchgebiet ist extrem groß und unwegsam. Hören Sie mich?«
    »J… ja, doch.«
    Die Stimme des Polizisten – sie klang ein wenig heiser – fuhr fort: »Wenn die Leiche gefunden wird, wollen wir sie so schnell wie möglich identifizieren. Wir gehen davon aus, dass der Tote schwerste Brandverletzungen hat. Deshalb brauchen wir sofort die DNA aller Personen, die mit dem Opfer identisch sein könnten. Und Tony ist ja schon eine ganze Weile verschwunden …«
    Lene hatte das Gefühl, ihr Herz wollte durch ihren Hals nach oben steigen und aus ihrem Mund springen, während die Stimme am anderen Ende unbeeindruckt weiterredete.
    »Deshalb frage ich mich, ob Sie einem unserer Kriminaltechniker helfen könnten, zu Hause bei Tony Leike DNA-Spuren zu sichern.«
    »Was soll das sein?«
    »Ein Haar in einer Haarbürste, Speichel auf der Zahnbürste, die wissen schon, was sie brauchen. Das Wichtigste ist, dass Sie als seine Verlobte Ihr Einverständnis geben und mit einem Schlüssel zu seinem Haus kommen.«
    »N… natürlich.«
    »Vielen Dank. Dann schicke ich jetzt gleich einen Techniker in den Holmenveien.«
    Lene legte auf. Spürte Tränen aufsteigen und schob sich die Stöpsel wieder in die Ohren.
    Sie hörte Tracy Chapman noch die letzte Zeile singen, in der es darum ging, ein schnelles Auto zu nehmen und einfach zu verschwinden. Dann war das Lied zu Ende. Sie drückte auf Repeat.
KAPITEL 65
    Kadok
    N adylen war das

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