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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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vollkommen verrückt.«
    »Wer ist verrückt?«
    »Wir arbeiten in einem Gefängnis«, sagte Bjørn. »Wir riskieren unsere Jobs, wenn unsere obersten Chefs herausfinden, was wir hier machen, und diese Kollegin in Bergen …«
    »Ja?«
    »Die ist wirklich verrückt.«
    »Du meinst, sie ist …«
    »Zwangseingewiesen in der Geschlossenen. Richtig verrückt eben.«

KAPITEL 18
     
    Die Patientin
     
    F ür jeden Schritt, den der hoch aufgeschossene Polizist machte, musste Kjersti Rødsmoen zwei machen. Trotzdem ließ sie sich nicht abhängen, als sie über den Flur der Sandviken-Klinik hasteten. Draußen rann der Regen an den hohen, schmalen Fenstern herab, durch die man den Fjord und grüne Bäume sehen konnte, als wäre der Frühling vor dem Winter gekommen.
    Kjersti Rødsmoen hatte den Polizisten an seiner Stimme erkannt, als er tags zuvor angerufen hatte. Als hätte sie auf seinen Anruf gewartet, um ihn exakt um das zu bitten, was er nun von sich aus tun wollte: mit der Patientin reden. Sie nannten sie noch immer nur »die Patientin«, um ihr die größtmögliche Anonymität zu gewähren, nach dem knapp ein Jahr zurückliegenden Mordfall, an dem sie als Ermittlerin beteiligt gewesen war. Die Belastungen waren zwischenzeitlich so groß geworden, dass sie einen Rückfall erlitten hatte und wieder in der psychiatrischen Klinik gelandet war, in der sie bereits zuvor behandelt worden war. Ihr Zustand hatte sich allerdings überraschend schnell gebessert, so dass sie schon bald wieder nach Hause entlassen werden konnte. Die Presse hatte sie mit ihrer unstillbaren Gier nach Details des längst gelösten Schneemann-Falls aber nicht in Ruhe gelassen, so dass die Patientin schließlich vor drei Monaten bei Rødsmoen angerufen und darum gebeten hatte, wieder zurückkommen zu dürfen.
    »Dann ist sie in brauchbarer Form?«, fragte der Polizist. »Steht sie unter Medikamenten?«
    »Ja, auf Ihre erste Frage«, sagte Kjersti Rødsmoen. »Was die zweite angeht, unterliege ich der Schweigepflicht.« In Wahrheit war die Patientin längst so weit genesen, dass sie weder Klinik noch Medizin brauchte. Trotzdem war Rødsmoen sich nicht sicher, ob es richtig war, den Polizisten zu ihr zu lassen. Auch er war in den Schneemann-Fall verwickelt gewesen, und möglicherweise riss sein Auftauchen alte Wunden auf. Kjersti Rødsmoen hatte in ihrer Zeit als Psychiaterin gelernt, auf die Verdrängung zu setzen, darauf, bestimmte Dinge abzukapseln und zu vergessen. Dieser Aspekt wurde in ihrem Fachgebiet häufig unterschätzt. Auf der anderen Seite stellte eine Begegnung mit einer Person, die gerade mit einem solchen verdrängten Erlebnis zu tun hatte, einen guten Test dar, um herauszufinden, wie robust ein Patient inzwischen war.
    »Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde«, sagte Rødsmoen, ehe sie die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete. »Und denken Sie daran, die Seele ist verletzlich.«
     
    Bei seinem letzten Besuch hatte Harry Katrine Bratt nicht wiedererkannt. Die hübsche Frau Ende zwanzig mit den dunklen Haaren, der leuchtenden Haut und dem lodernden Blick war verschwunden gewesen, übriggeblieben war nur eine Person, die ihn an eine vertrocknete Blume erinnert hatte: leblos, spröde, fragil und in verloschenen, matten Farben. Er hatte das Gefühl gehabt, ihre Hand zu zerbrechen, wenn er zu fest zudrückte.
    Deshalb war er erleichtert, als er sie jetzt sah. Sie wirkte älter, wenn das nicht einfach Müdigkeit war. Aber der Glanz war zurück in ihren Augen, als sie ihn anlächelte und aufstand.
    »Harry Ho«, sagte sie und umarmte ihn. »Wie geht’s?«
    »Medium plus«, sagte Harry, »und dir?«
    »Ziemlich beschissen«, antwortete sie, »aber viel besser.«
    Sie lachte, und Harry wusste, dass sie wieder da war. Auf jeden Fall der größte Teil von ihr.
    »Was ist mit deinem Kiefer passiert? Tut das weh?«
    »Nur wenn ich spreche oder esse«, sagte Harry. »Und beim Aufwachen.«
    »Hört sich vertraut an. Du bist hässlicher, als ich dich in Erinnerung habe, aber ich freue mich trotzdem, dich zu sehen.«
    »Gleichfalls.«
    »Du meinst, dass du dich auch freust, aber nicht das mit dem hässlicher, oder?«
    Harry lächelte. »Nein, natürlich nicht.« Er sah sich um. Die anderen Patienten im Raum starrten aus dem Fenster, auf ihren Schoß oder einfach nur an die Wand. Absolut niemand schien sich für ihn und Katrine zu interessieren.
    Harry erzählte ihr, was in letzter Zeit geschehen war. Von Rakel und Oleg, die an einen unbekannten Ort im Ausland

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