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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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um.
    Olav Hole sah frischer aus, wenn das nicht an seinen roten Wangen und den fieberglänzenden Augen lag. Harry stand auf und schob den Stuhl an das Bett seines Vaters.
    »Bist du schon lange hier?«
    »Zehn Minuten«, log er.
    »Ich habe so gut geschlafen«, sagte sein Vater. »Und schön geträumt.«
    »Das sieht man. Du siehst aus, als könntest du einfach aufstehen und hier rausspazieren.«
    Harry schob ihm das Kissen zurecht, und Olav Hole ließ es geschehen, obgleich beide wussten, dass es perfekt lag.
    »Wie sieht das Haus aus?«
    »Prima«, sagte Harry. »Es wird da noch eine Ewigkeit stehen.«
    »Gut. Es gibt eine Sache, über die ich mit dir reden will, Harry.«
    »Hm.«
    »Du bist jetzt ein erwachsener Mann. Du wirst mich auf ganz natürliche Weise verlieren. So soll es sein. Nicht so wie damals, als du deine Mutter verloren hast. Das hat dich ja fast verrückt gemacht.«
    »Hat es das?«, fragte Harry und fuhr mit der Hand über den Kissenbezug.
    »Du hast dein Zimmer verwüstet. Wolltest die Ärzte umbringen und alle, die sie angesteckt hatten, ja sogar mich. Weil ich … ja vermutlich, weil ich es nicht früher erkannt hatte. Du warst so voller Liebe.«
    »Voller Hass, meinst du wohl.«
    »Nein, voller Liebe. Das ist ein und dieselbe Münze. Mit der Liebe fängt alles an, der Hass ist bloß die Kehrseite der Medaille. Ich war immer überzeugt, dass dich der Tod deiner Mutter zum Trinker gemacht hat. Oder vielmehr die Liebe zu deiner Mutter.«
    »Liebe ist eine Killermaschine«, murmelte Harry.
    »Was?«
    »Ach, das hat mal jemand zu mir gesagt.«
    »Ich habe alles getan, worum deine Mutter mich gebeten hat. Bis auf eine Sache. Sie hat mich angefleht, ihr zu helfen, als ihre Zeit gekommen war.«
    Es fühlte sich an, als hätte jemand Eiswasser in Harrys Brust injiziert.
    »Ich habe das nicht gekonnt. Und weißt du was, Harry? Das hat mich wie ein Albtraum verfolgt. Es ist nicht ein Tag vergangen, an dem ich nicht daran gedacht habe, dass es mir nicht gelungen ist, ihr diesen Wunsch zu erfüllen – der Frau, die ich über alles in der Welt geliebt habe.«
    Das Holz des Stuhls knackte, als Harry aufsprang. Er trat wieder ans Fenster und hörte seinen Vater hinter sich ein paarmal tief und zitternd atmen. Dann kam es:
    »Ich weiß, ich lege dir damit eine schwere Bürde auf, Sohn.
    Aber ich weiß auch, dass du so bist wie ich, es wird dich verfolgen, wenn du es nicht tust. Also lass mich dir erklären, was du tun musst …«
    »Vater«, sagte Harry.
    »Siehst du die Kanüle?«
    »Vater! Hör auf!«
    Es wurde still hinter ihm. Nur der gurgelnde Atem. Harry starrte auf das Schwarzweißbild einer Stadt, über deren Dächer sich die bleigrauen, verschwimmenden Gesichter der Wolken legten.
    »Ich möchte in Åndalsnes begraben werden«, sagte der Vater.
    Begraben. Das Wort klang wie ein Echo der Osterfeste mit Mutter und Vater in Lesja, wenn Olav Hole Harry und Søs voller Ernst erklärte, was sie tun sollten, wenn sie von einer Lawine verschüttet wurden und ihr Herz sich in ein Panzerherz verwandelte. Um sie herum lagen ebene Felder und sanft geneigte Hänge, und es war ein wenig, wie wenn die Flugbegleiterinnen eines mongolischen Inlandsfluges den Gebrauch der Schwimmwesten erklärten. Absurd, aber trotzdem: Es gab einem ein Gefühl von Sicherheit, sie alle hatten eine Chance zu überleben, wenn sie nur das Richtige taten. Und nun sagte sein Vater, dass das alles nicht stimmte.
    Harry räusperte sich zweimal: »Warum Åndalsnes? Warum nicht hier in der Stadt, wo …«
    Harry verstummte, aber sein Vater verstand den Rest: wo Mutter liegt.
    »Ich will bei meinen Leuten liegen.«
    »Aber die kennst du doch gar nicht.«
    »Nein, aber wen kennt man schon? Sie stammen wenigstens aus demselben Ort. Vielleicht geht es letztendlich darum. Um den Stamm. Und den Wunsch dazuzugehören.«
    »Will man das wirklich?«
    »Ja, das will man. Vielleicht ist man sich dessen nicht bewusst, aber das will man.«
    Der Pfleger, der laut Namensschild Altman hieß, kam in den Raum, warf Harry ein Lächeln zu und tippte auf seine Uhr.
    Als er die Treppe nach unten ging, begegneten Harry zwei uni formierte Polizisten. Er nickte ihnen automatisch zu, aber sie starrten ihn schweigend und wie einen Fremden an.
    Gewöhnlich sehnte Harry sich nach der Einsamkeit und all den Begleiterscheinungen, die in ihrem Kielwasser folgten: Frieden, Stille und Freiheit. Doch als er an der Straßenbahnhaltestelle stand, wusste er plötzlich nicht mehr,

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