Ler-Trilogie 02 - Die Zan-Spieler
drastische, unwiderrufliche. Mit dem totalen Gedächtnis hatte der Geist eines Ler zum Ausgleich auch die Fähigkeit, total zu vergessen, Daten zu löschen, sich seiner zu entledigen. Das eine glich das andere aus. Es war mehr als das Vergessen in dem herkömmlichen Sinne, in dem die Vorläufer es sahen. Dabei handelte es sich im Grunde nur um ein Verlegen von Daten. Aber das selbsttätige Vergessen bedeutete ein Auslöschen. Es war sehr einfach, den Prozeß in Gang zu bringen – man wußte instinktiv, wie es ging, so wie man weiß, wie man sich etwas vorzustellen hat: Es war so einfach und selbstverständlich, daß man dem heranwachsenden Kind beibringen mußte, besser auf die Realität zu achten. Aber das betraf nur das Ingangbringen des selbsttätigen Vergessens. Den Prozeß zu beenden gelang nur dem Erfahrenen und Gebildeten, es war enorm schwer. Das konnte man erst dann schaffen, wenn man tief in der Ältestenphase war, am Ende der dritten Spanne {5} . Die Ältesten, so hatte sie gehört, konnten teilweise löschen, gewisse Abschnitte ihrer Erinnerung vergessen, zusammenfassen und neu bildlich darstellen und dadurch Platz schaffen für frischere Erfahrungen … aber sie war keine Älteste; sie war eine didhosi, eine Heranreifende, sie hatte im letzten Sommer gerade ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert. Und darum konnte es für sie nur alles oder nichts geben. Sie hatte gehört, daß es leicht, nicht schlimm, daß es schmerzlos sei. So als ob man einschliefe. Daß man sich einfach irgendeinen Punkt in irgendeiner gültigen Erinnerung nahm und dann das Bild auflöste, so wie man einen Faden in einem Gewebe nimmt: Das Ganze trennt sich dann schon von selbst auf.
Und dann würde das Ego, die Persona nicht mehr da sein, würde verschwunden sein, als ob es nie dagewesen wäre, mit Ausnahme der existentiellen Spuren auf dem Leben anderer, auf den fortdauernden körperlichen Gegenständen in der Welt. Ja, das Ego würde nicht mehr da sein, aber der Körper würde, geschützt durch seine autonomen Reaktionen, weiterleben. Das Bewahren von Geheimnissen war nicht der Zweck des selbsttätigen Vergessens, sondern es war eigentlich eine seiner Nebenerscheinungen. Ein endgültiges Bewahren. Und hinterher würden ihre menschlichen Peiniger wieder kommen und feststellen, daß sie nichts als ein kleines Kind in einem zwanzig Jahre alten Körper in ihrer Gewalt hatten. Sie hoffte, daß man sie, da man nicht wissen würde, was man mit so einer anfangen sollte, dann ihrem Volk zurückgäbe, wo man angemessen für sie sorgen würde, sie waschen, füttern und in den nächsten zehn Jahren, die ihr noch blieben, bevor sie fruchtbar, eine Erwachsene werden sollte, sorgfältig zu einer neuen, funktionierenden Persona erziehen würde. So würde sie schließlich wieder zu einer bewußten, funktionierenden, der Fortpflanzung fähigen Person werden, würde sie verwoben werden, um, wie es jedermanns Pflicht war, für den Bestand der nächsten Generation zu sorgen. Sie verspürte inmitten der Angst ein klein wenig Freude. Und trotz des klaren Wissens um das, was sie zu tun hatte, war sie doch auch verwirrt. Sie dachte angestrengt nach, stürzte sich auf diese Verwirrung. Und werde ich auch in diesem Körper weiterleben, diesem süßen Fleisch, das mir und anderen soviel Freude gegeben hat … Ich? Nein, nicht ich, das weiß ich. Nicht ich werde es sein, die in dieser Haut stecken wird. Nein, eine andere, eine, die jetzt noch nicht existiert und die nicht von Tlanh und Srith geboren sein wird. Sie wird einen anderen Namen tragen. Nicht den meinen. Ich nehme meinen Namen dorthin mit, wo immer die Gedächtnislosen hingehen. Ja, eine andere. Sie wird kindisch und zerstreut sein, aber sie wird funktionieren; weil sie wissen, was sie ist, werden die anderen sie lieben und ihr helfen. Wenn dann für die Kinder die Zeit des Verwebens gekommen sein wird, wird sie praktisch vollendet sein.
Im Geiste lachte sie, es war ein schmerzliches Lachen, denn plötzlich sah sie es ganz deutlich und ohne Furcht. Ich, eine Gedächtnislose. Eine, die ihr Gedächtnis aufgegeben hat: Lel Ankrenamosi. Sie hatte bisher nur mit Angst und Schrecken an das freiwillige Vergessen gedacht, weil die Aufgabe des Gedächtnisses für sie etwas Unreines und Erbärmliches an sich hatte. Aber es gab noch Schlimmeres, ein ganzes Universum von noch Schlimmerem. Sie wägte ihren Ekel vor dem Zustand gegen das ab, was sie aus ihrer schwachen Lage heraus enthüllen und dadurch
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