Ler-Trilogie 02 - Die Zan-Spieler
Morgen immer besonders gern gehabt, und immer war sie als erstes von allen Kindern aufgewacht und hatte zugesehen, wie das erste Licht die durchsichtigen Scheiben der Fenster des yos tiefviolett färbte. Sie befreite sich dann aus der Menge der anderen, denn bei kühlerem Wetter schliefen sie wegen der Wärme alle auf einem Haufen, und kletterte dann aus dem für die Kinder abgeteilten Raum und nach unten in den Raum, in dem der Kamin war. Sie waren vier gewesen. Zwei Jungen, zwei Mädchen. Die idealen Ler-Webkinder. Aber irgendwie hatte irgend etwas nicht gestimmt; sie konnte sich nicht mehr erinnern, wieso. Der Raum mit dem Feuer pflegte um diese Zeit dunkel zu sein, die Asche im Kamin ausgeglüht oder doch fast. In ihrem Nachtkleid ging sie auf bloßen Zehenspitzen durch den yos, ihrer aller Heim, und durch den doppelten Zuweg, wobei sie im Gehen die Türlaschen beiseite schob. Sie trat behutsam auf den Vorplatz hinaus. Die Luft war kühl gewesen, selbst im Sommer, und hatte durch das dünne Nachtkleid in ihre Haut geschnitten, die Haut, die darunter immer noch vom Schlafen warm war und nach Kind duftete. Diese Erinnerung: Es war Winter, und auf dem Boden lag Frost. Kristalle aus Frost auf dem kahlen Stück beim Bach. Das Flüßchen am Haus murmelte still vor sich hin; es klang rein, präzise und knapp. Die Sprache des Winters. Es klang immer so im Winter. Zur Sommerszeit war die Stimme runder, gelöster, fließender. Sie stellte sich vor, daß es eine Sprache spräche. Nein, das hatte ihr jemand gesagt. Vor kurzem. Wer war es gewesen? Aber der Bach sprach: einen laufenden Kommentar zum Wesen der Dinge, zum Grundwasser, zum Humus, zu den Maulwürfen, Regenwürmern, den neugefallenen Blättern der Jahreszeit, die für den reichen Waldboden ihre Nährstoffe freisetzten. Das Gefühl, beinahe zu erfrieren. Die Dinge, von denen das Wasser wußte. Sie blickte auf. Weiter unten am Bach konnte sie durch die vom Winter entblößten Sträucher und das Gewirr der Weinstöcke hindurch den undeutlichen Umriß des benachbarten yos erkennen. Im Sommer war er vollkommen verdeckt. Und noch weiter unten, durch eine Lücke zwischen den Bäumen, war der See zu sehen, still und kalt und tiefblau in diesem frühen Licht.
Sie überflog noch einmal alles, und sie spürte, daß sie schneller, als sie es sich vorgestellt hatte, an Boden verlor. Keine Zeit mehr für vierzehn. Habe nur noch Zeit für eine Wiederholung. So soll es dann mit ihm sein. Das eine will ich bis zum Ende behalten. Laß es das letzte sein, und danach das Nichts. Auch wenn es jetzt nur eine reine Einbildung meines Gedächtnisses ist und nie mehr sein wird. Plötzlich waren die Trugbilder verschwunden.
Der Vorgang dauerte unerbittlich fort und brachte ihren Geist wieder zu dessen entropischer Verfassung zurück, aber während er weiterging, schlug er in der zentralen Leere kleine Wellen eines Pseudowissens, ein logikähnlicher Akt, der ihr wie ein plötzliches Aufleuchten von Einsicht erschien. Diese vorübergehenden neuen Formen waren so verschiedenartig wie ihr Ursprung: Einige waren offensichtlich nichtig, andere unverständlich und fremdartig. Und manche hatten den Klang der Wahrheit. Sie wußte nicht, woher sie dies wußte. Diese letzteren versuchte sie festzuhalten. Eines ganz besonders, ein hochaufragendes Gebäude, das sich unaufhörlich veränderte. Für einen Moment sah sie es – und Erleichterung durchflutete sie, denn sie hatte die Zukunft gesehen. Keine Einbildung, kein Paratraum, kein Pseudowissen. Wirklich. Und diese Zukunft war sowohl wahr als auch gut: Es würde Leid geben gerade wegen dem, was sie soeben getan hatte, aber es war nicht ihre Schuld, sondern die eines anderen. Und sie würden das große Werk vollenden. Es würde vollendet werden. Sie sah und war glücklich, aber sie verstand nicht, warum der Gedanke ihr gefallen hatte. Dann war er verschwunden. Und verschwunden war auch die Erinnerung an das Etwas, das ihr gefallen hatte.
Sie konzentrierte sich auf sein Bild. Er. Ihr tiefstes Bild. Da er zuerst kühl und zurückhaltend gewesen war, hatte er zuerst etwas an sich gehabt, was sie nicht mochte … oder mißbilligte. Und dann hatte sie entdeckt, daß er etwas konnte, das auch sie konnte, etwas … auch das war weg. Egal. Die Erinnerung daran, wie er gewesen war, war deutlich und wohlgeordnet. Die Deutlichkeit des Bildes hatte anscheinend zugenommen durch den Wegfall der Umstände, unter denen sie sich kennengelernt hatten, und durch die
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