Ler-Trilogie 02 - Die Zan-Spieler
führte in eine ganze Welt, ein Universum von Häresien und verbotenen Spekulationen … verboten jedenfalls einem Mitglied einer Kultur, die nicht aus religiösem Wahn, sondern aus der Notwendigkeit heraus gezwungenermaßen puritanisch geworden war. Von allen Methoden der Empfängsverhütung hatte nur die Abstinenz den doppelten Effekt von hundertprozentiger Wirksamkeit und garantiert ausbleibenden Nebenwirkungen. Blieben sie wirklich aus? Nicht ganz. Es gab offensichtlich Nachwirkungen, auch wenn sie im Geist und nicht unbedingt im Körper zu finden waren. Vance sperrte auch diesen Gedanken ab. Sein Geist bewegte sich heute auf beunruhigenden Bahnen; vielleicht war dieses launische herbstliche tanh- Wetter daran schuld …
Das allgegenwärtige leise Stimmengewirr unter den Besuchern war in den letzten Sekunden immer schwächer geworden und schließlich ganz verstummt. Vance fiel es jetzt auf; Fellirian hatte es trotz ihrer scheinbaren Unaufmerksamkeit ebenfalls bemerkt und kletterte mit einer fließenden, graziösen Bewegung, die Vance immer schon an ihr aufgefallen war, von der Fensterbank herunter. Sie ging zu dem Stuhl hinüber, den sie manchmal benutzte, setzte sich aber nicht darauf, sondern blieb ruhig stehen und nickte den Besuchern zu, um ihnen zu bedeuten, daß sie bereit sei fortzufahren.
Ein Mitglied der Besuchergruppe, eine nervös-aggressive Frau unbestimmbaren mittleren Alters, die die moderne schwere Kleidung mit ihren Falten und Fältelungen mit Gleichgültigkeit trug und die Gummiüberzüge über ihren schweren Schuhen anbehalten hatte, stand auf und räusperte sich.
„Es ist mir etwas peinlich“, begann die Frau, „aber ich weiß nicht, wie ich Sie anreden soll, so direkt.“ Sie hatte während des Vortrags das gleiche gesehen wie die anderen, und sie konnte sich die Familienstruktur der Ler genausogut vorstellen wie irgendeiner der übrigen Anwesenden auch; trotzdem fühlte sie sich in der Gegenwart eines tatsächlichen Mitgliedes eines solchen Familienverbandes nicht ganz wohl. Die Familie war in der menschlichen Gesellschaft mittlerweile zu einer Seltenheit geworden. Die Stimme, die die provisorische Einleitung gesprochen hatte, war beladen mit der sprachlichen Rauchigkeit des Balkans.
Fellirian lächelte freundlich und versuchte auf diese Weise, die Frau einigermaßen zu beruhigen. „Nun, auf jeden Fall nicht mit Frau Deren. Ich würde sagen, die Anrede, die dem am nächsten käme, wäre ‚die weibliche Hälfte eines Ganzen, die zu einem Herrn Deren gehört’. Ich bin eine Innenverwandte. Ich behalte den Nachnamen der Webe. Aber für hier und jetzt ist ‚Fellirian’ völlig in Ordnung. Das ist die Anrede, die wir selbst gebrauchen.“ Ihre Stimme war eine angenehme und klare Altstimme, die das zu dieser Zeit gebräuchliche Modanglisch ohne erkennbaren Akzent oder Regionalismus ausdrückte. Dennoch lag etwas Flüchtiges in der Art, wie sie ihre Wörter wählte und aussprach, was darauf schließen lassen konnte, daß das Modanglische für sie eine Fremdsprache war, ganz gleich wie gut sie es sprach. Und eine Fremdsprache war es für sie in der Tat.
Die Frau seufzte und sagte nach einer spürbaren Pause: „Also gut. So sei es denn. Das hört sich ja recht leicht an, wenn ich mich bisher auch nie daran habe gewöhnen können, die Leute mit dem Vornamen anzureden. Aber ich verstehe. Wenn Sie ihn in Ihrer eigenen Umgebung gebrauchen, wird er immer noch formell genug sein, könnte ich mir denken.“
Fellirian stimmte freundlich zu. „In der Tat. Wir kennen eine ganze Reihe von Formalitäten im Umgang miteinander, kleine Unterscheidungen, die manchmal Verwandtschaftsgruppen oder den relativen gesellschaftlichen Rang widerspiegeln. Nur keine Angst! Auch wir machen Fehler.“
„Diese Dinge sind die Ursache für viele Mißverständnisse, da stimme ich zu. Nun denn, kommen wir zu den Dingen, die uns näherliegen. Fellirian, Sie vertreten hier Ihr Volk als Volk, so daß diese Frage vielleicht etwas unangebracht scheint. Aber in meinem Bezirk {10} haben wir wenig Kontakt mit Ihrem Volk. Eigentlich so gut wie gar keinen. Und natürlich hört man so allerhand. Unsere Behörde muß sich mit diesbezüglichen Fragen immer wieder auseinandersetzen.“
Fellirian fühlte sich unbehaglich. Es war eine lange Einleitung. Sie nickte und sagte: „Bitte fahren Sie fort.“
„Ich finde das, was ich hier gesehen habe, sehr verwirrend. Draußen in der Welt wird allgemein angenommen, daß Sie uns
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