Lerchenherzen
überläßt die Kleinen dem Großvater Karl und geht nach Ås, um Maren zurechtzumachen und die kleine Mathilde mit sich zu nehmen. Sie macht ein paar dürftige Versuche, den niedergeschmetterten Witwer zu trösten, aber Anders ist nicht irgendeiner und läßt sich nicht von Worten trösten wie: »sein Kreuz tragen« und »der Wille unseres Herrn«. Und das können die meisten wohl einsehen.
Anders, einziger Sohn und Hoferbe von Ås, dem großen Hof, ist total verwöhnt. Niemals ist ihm in den Sinn gekommen, daß er etwas, das er sich wünschte, nicht bekommen – und behalten sollte. Jetzt sieht es so aus, als hätten Gott und Maren ihn aufs grausamste im Stich gelassen. Katrine und ihre wohlgemeinten Bibelworte schiebt er beiseite und geht wütenden Schritts hinaus in den Stall, wo er eigenhändig Marens Lieblingskalb »Gullsi« erschlägt. Auf der Beerdigung gibt es jedenfalls frisches Fleisch und Brühe.
Und Maren Pütt kommt bei Glockengeläut und leise rieselndem Weihnachtsschnee unter die Erde. Sie weckt im Tod bedeutend mehr Trubel als zu Lebzeiten, zurückhaltend wie sie war. Mathilde trägt man schreiend aus der Küche von Ås, damit sie ihr erstes Lebensjahr an Tante Katrines Brust verbringen kann, und Anders ist wieder allein, bitter, mürrisch und weniger irgendeiner denn je.
6
Sie muß als Kind schrecklich einsam gewesen sein, glaube ich. Jedenfalls nach ihrem ersten Lebensjahr, in dem sie bettelte und schrie, um soviel wie möglich von der Brust der Tante und von der Aufmerksamkeit der Cousine zu bekommen. In den ersten Wochen teilte sie die Wiege mit Vetter Konrad, aber der wurde rasch in eine große Kommodenschublade umgebettet, weil die Mutter Angst hatte, er würde von dem vielen Gewiege ganz verwirrt werden.
Denn Mathilde wollte geschaukelt werden. Asta, die älteste der Cousinen, war mit ihren drei kleinen Geschwistern schon tüchtig im Wiegen, und außerdem hatte sie gerade gelernt, bis hundert zu zählen. Stundenlang saß sie mit zusammengekniffenenAugen und den Fingern in den Ohren auf einem kleinen dreibeinigen Schemel und schaukelte und zählte, zählte und schaukelte. Eins, zwei, drei, vier …, bei fünfzig, allmählich behutsamer wiegend, nahm sie vorsichtig prüfend die Finger aus den Ohren. Ja, das Schreien klingt weniger wütend. Bei fünfundsiebzig hört es ganz auf, und Asta kann die kleinen Geschwister auf dem Hofplatz hören. Lieber Gott, laß das Kleine schlafen! Ich will hinaus in die Sonne! Bei fünfundneunzig steht die Wiege beinahe still, aber bei siebenundneunzig, achtundneunzig … schreckt Mathilde auf und brüllt los, so daß Asta sich wieder die Ohren zuhält und die Wiege in rasende Bewegung versetzt. Und dann wieder von vorn – eins, zwei, drei, vier …
In späteren Jahren kann Asta Mathilde nicht sehen, ohne den Drang zu verspüren, mit dem Fuß zu wippen und bis hundert zu zählen. Sie verspürt einen schrecklichen Drang, sich die Finger in die Ohren zu stecken, aber das kann andere Gründe haben.
Und Mathilde wird ihr Leben lang die wiegende, schaukelnde Bewegung lieben. Als Kind, ja lange noch als Jugendliche, verbringt sie Stunden auf der Schaukel, die ihr Vater an der prächtigen Eiche ganz hinten im Garten angebracht hat. Die gleiche Eiche, die noch heute dort steht, sie wird weit über hundert Jahre alt sein. Von dort aus hatsie eine so gute Aussicht über die Jakobsau. Und später, viel später, ist es der Schaukelstuhl in ihrer Kammer.
7
Du solltest die Niederung Jakobsau sehen, so, so wie sie aussieht, wenn es am allerschönsten ist! Die flaumweichen, rostroten Halme, an deren Namen ich mich nie erinnern kann – hießen sie Straußgras? Mit Gräsern war ich nie gut, aber die Blumen kenne ich, die hat mir Evine beigebracht. Klee und Leimkraut, Hahnenkamm und Lichtnelke und unzählige Butterblumen. Auf den trockenen Felsrücken rund um die Scheune stehen Pechnelken mit ihren schönen, rot-violetten Blütenköpfen und den klebrigen, ekligen Stielen Seite an Seite mit Hornklee und den scheuen, rosenroten Katzenpfötchen.
Und der Fluß, ich werde dir den Fluß zeigen! Wie ein silbernes Band durcheilt er die Wiese, und er schmiegt sich wie ein glitzernder Tropfen in die Ausbuchtung, wo wir baden. Mathilde wäre dort einmal fast ertrunken. Störrisch und eigensinnig wie sie war, meinte sie wohl, daß sie wie die größeren Kinder im Tiefen schwimmen könne.Platsch hinein, und weg war sie. Mit Mühe und Not wurde sie von Hermann Myras ältestem Sohn
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