Lesereise - Afrika
Wirklichkeit aufhört und wo das Spinnen und Fabeln anfängt. Aber jetzt ist jetzt, und vorher ist lange vorbei. Wo liegt da der Widerspruch? Das ist wunderbar verwirrend und klar.
Und wir gehen zu Hafis. Der Alte, würdig, elegant, ganz in Weiß gekleidet, sitzt am Boden seiner Wohnhöhle und trinkt Tee. Rashid drückt ihm diskret ein paar Scheine in die Hand, die anwesende Familie zieht sich zurück. Das scheint ein Ritual zu sein, jedermann weiß Bescheid. Aus einem Säckchen holt Hafis den Stoff, Rashid zerschneidet ihn, legt das Haschisch auf die glühende Kohle der Wasserpfeife, zieht als erster. Nicht als erster Kunde – das ist Hafis, der Älteste –, sondern als Mundschenk. Um zu prüfen, ob der richtige Zug herrscht und kein technisches Problem den kommenden Genuss stört. Die Zeremonie gehört dazu, sie stimmt ein. Bevor es losgeht, wird das einzige Fenster hoch oben geöffnet. Damit der verräterische Geruch abzieht. Und die Pfeife mit dem schwarzen Afghanen macht die Runde, viele Runden. Hafis und Rashid rauchen wie Profis, ruhig, tief, nicht ein Huster. Nur selige Stille, nur da sein und den Körper der Droge zur Verfügung stellen.
Hinterher, draußen in einem Café, kommt es Rashid wunderbar leicht über die Lippen: Er brauche Geld, noch heute, noch heute sofort. Da ich mich inzwischen ein wenig auskenne bei ihm, bin ich bereits gerüstet und erkläre mich bankrott. Und Rashid fehlt augenblicklich der Wille, mir knallhart nachzuweisen, dass alles ganz anders ist. Dafür biete ich ihm an, mich in Paris zu besuchen, dort hätte ich einen reichen Onkel. Und Rashid kauft ihn mir ab, selig fragt er nach seinem Namen.
Da soll einer kommen und behaupten, dass Drogen nur Mord und Meuchelmord provozieren. Wie oft habe ich sie als friedensstiftend erfahren, als Sedativum zur Stilllegung nagender Sehnsüchte.
Auf dem Nachhauseweg kehre ich noch in eine Teestube ein. Ein freundlicher Zuhälter fragt, ob er an meinem Tisch Platz nehmen darf. Aber ja doch. Alle Menschen, die dazu beitragen, dass ich in die Nähe von begehrenswerten Frauen komme, sind willkommen. Nur schade, dass Tahir bedenkenlos übertreibt. Die schönsten Geschöpfe könne er zu Verfügung stellen, preiswert und »all long night«. Nun habe ich seit Längerem begriffen, dass die Schönsten nie für wenig Geld eine lange Nacht verfüglich sind. Also besitzt Tahir zwei Berufe, Zuhälter und Märchenerzähler. Und ich lasse ihn erzählen, ihn preisen die ägyptische (und sudanesische) Schönheit seiner Huren, ihn ausschmücken das Begehren, mit dem sie nach meinem Körper verlangen, ihm wohltun und ihn mit unaussprechlichen – Tahir: »simply inexpressible« – Todsünden verderben werden.
In solchen Augenblicken fühle ich mich wie ein Kind aus dem 19. Jahrhundert, dem die Mutter eine Gutenachtgeschichte vorlas. Spüre wieder diesen überwältigenden Frieden, der von einer menschlichen Stimme ausgehen kann, diesen wärmenden Singsang, der Eintracht und Schlaflust bringt. Keine Schlaflust aus Überdruss, nein, aus dem wohligen Gefühl, dass die Welt in diesem Augenblick stimmt. Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami sprach einmal von seinem Ururgroßvater, dem die Wüste die schönste aller Farben schenkte, die geheime Farbe der Worte. Damit er auf langen Reisen stets etwas erzählen konnte.
Ich erinnere mich einer Reuter-Agenturmeldung über »Bell Telephone« und deren unverfrorene Idee, Väter aufzufordern, über eine bestimmte Nummer eine Geschichte anzuwählen, statt selbst ihre Kinder zu unterhalten.
Als der Zuhälter aufhört, weil die Kneipe zumacht, muss ich aufwachen, auftauchen zurück auf die Erde, in der nur Fakten zählen und ihre Liebhaber, die Faktenhuber. Trunken wanke ich in mein Hotel, den Kopf voll flehentlicher Göttinnen. Hoffentlich begegne ich nie den (wirklichen) Damen von Tahir. Sehr wahrscheinlich sind sie zahnlos und an mir nicht mehr interessiert als an jedem anderen, der sich über sie hermacht.
Vermutlich besetzt Kairo bei den Orten mit den meisten Geschichten im Universum den allerersten Platz. Den tatsächlichen Geschichten und den geträumten. Romancier und Nobelpreisträger Nagib Machfus hat seine Heimatstadt fast nie verlassen, so beschäftigt war er mit dem Erzählen. Das ist der sagenhafte Reichtum dieser Stadt. Keine ist arabischer, in keiner legen sie begabter los mit Worten und deren tausendundein Farben. So benutzen sie ihr Alphabet als Sprungbrett, um über die Mühsal des Lebens
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