Lesereise - Afrika
sehe ich einen Mann vor einer Ampel von Auto zu Auto zu hüpfen. Auf der Suche nach Almosen. Er hat ein Bein und keine Arme. Für den Rest der Fahrt denke ich darüber nach, was das für ein Gefühl sein könnte: Morgens aufwachen und mich erinnern, dass mir drei Extremitäten fehlen. Und ich die eine letzte Extremität hauptberuflich dafür einsetze, um ein paar Piaster abzustauben. Sollte mich nicht ein Autofahrer vorher erlösen und irgendwann zu heftig Gas geben. Ich würde gerne wissen, woher ich die Kraft nähme, ein solches Krüppelleben auszuhalten.
Die Tage in Kairo. Eines Morgens fahre ich nach Helwan, im äußersten Süden der Stadt. Da ein Großteil der Strecke nicht unterirdisch, sondern über Land verläuft, nehme ich die Metro. Ich will fünfundzwanzig Kilometer lang die Stadt sehen. Als ich in den ersten Waggon steige, werde ich grinsend, aber bestimmt wieder evakuiert. Hier dürfen nur Frauen und Kinder rein. Also zu den Männern. Darunter Usamma, mein Sitznachbar. Da ich auf nicht zu übersehende Weise unägyptisch aussehe, spricht er mich an, fragt, woher ich käme. Entgegen aller Gewohnheit sage ich Deutschland. Oft sage ich Schweden oder Holland oder Tschechien. Nicht, weil ich mich pathetisch für mein Vaterland schämte. Aber die überschwänglichen oder zynischen Bemerkungen nerven, ich verspüre kein Bedürfnis, jedes Mal die unwiderruflich eintreffenden Kommentare mehr oder weniger intelligent zu kommentieren. Die drei oben zitierten Länder lösen nicht blinden Hass und nicht blinde Liebe aus, eher freundliches Nicken. Sie sind weder stinkreich, noch für einen Völkermord verantwortlich. Sie reizen nicht, zu was auch immer.
Aber jetzt ist das Wort heraus. Und Usamma kann nicht anders, als mir seine Bewunderung für Deutschland zu gestehen. Aber er sagt es in einer ganz bestimmten, heiseren Tonlage, die das Schlimmste ahnen lässt. Und aus der Ahnung wird öffentliche und klar vernehmbare Realität: Denn der Dreißigjährige lässt es sich nicht nehmen, mich und die anderen Passagiere darüber zu informieren, dass am Anfang aller Bewunderung Adolf Hitler stehe. »Vox populi, vox Rindvieh«, fällt mir noch ein. Aus früheren Begegnungen ähnlicher Art habe ich gelernt, auf keinen Fall zu widersprechen. Denn das würde den Begeisterten nur in eine Rechtfertigungsorgie treiben. Dafür versuchen, mit Lichtgeschwindigkeit auf ein anderes Thema abzulenken.
Vergebens. Als ich zu einer Lobrede über Präsident Mubarak ausholen will, ist es bereits zu spät. Usamma lässt sich nicht mehr bremsen. Ich bin umgehend auf den GAU gefasst, erwarte, dass – wie des Öfteren in dieser Weltgegend vernommen – Hitler schon deshalb alle Hochachtung verdiene, weil er ein paar Millionen Juden aus dem Weg geräumt hat. Aber mein Nachbar überrascht (beinahe hätte ich »überrascht positiv« gesagt, unglaublich, wie schnell man bescheiden wird), preist nicht die Effizienz von Auschwitz, sondern erwähnt einen Vorfall bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, bei dem A. H. einem ägyptischen Spitzensportler die Hand geschüttelt und gesagt habe, er wünschte, der Ägypter wäre Deutscher.
Mit betauter Stirn verlasse ich bei der nächsten Station den Zug, lasse den Fan allein, nehme die nächste Metro, will den Rest des Tages nur noch Tscheche sein.
Helwan hat nichts, was man vor seinem Tod gesehen haben muss. Betriebsam, staubig und verstunken von den nahen Fabriken. Ich schlendere und »stelle auf Empfang«. Den Ausdruck hat Henry Miller erfunden. Der Meister meinte, dass wir nichts zu suchen hätten, nur »finden« müssten. Alles sei bereits da, wir müssten nur bereit sein, es zu entdecken. Deshalb die Antennen. Damit uns nichts entgeht. Sich bloßlegen, sich aufmachen, die sieben Sinne der Welt, der Umwelt zur Verfügung stellen. Wie eine Hure sich von allem und jedem anmachen lassen.
Und ich finde Magdi. Genauer, er findet mich. Denn aus einem kleinen Geschäft ruft er ein freundliches Hallo. Und die Bitte, doch einzutreten.
Das werden vier mitreißende Stunden. Weil eine unheimliche Geschichte auf mich wartet. Und ein Crashkurs in Sachen menschlicher Widersprüche und ozeanischer Scheinheiligkeiten. Magdi ist Christ, gehört zur koptischen Minderheit im Land. Er hat Elektrotechnik studiert, auch in Frankreich gearbeitet, kam zurück, fand in seinem Land keinen Job, hilft deshalb im Trödelladen seines Vaters, der Steckdosen und Kabel verkauft, Reparaturen erledigt.
Ab und zu tritt ein Kunde
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