Lesereise Backsteinstaedte
die sich neben ihrem bundesweit größten Förderprojekt, der Wismarer St. Georgen Kirche, auch hier Kultur rettend engagiert. Modelle der Wismarer Gottesburgen St. Marien, St. Georgen und St. Nikolai, präsentiert in Glasvitrinen in der Nordkapelle, zeugen vom Wirtschaftsbund der Hanse, ihrem Reichtum, ihrem Wagemut, ihrer maritimen Macht. Und in der Rotbuntheit der Backsteine, die Rezeptur stammt aus Oberitalien, spiegelt sich die Gestaltungslust der gotischen Baumeister wie eine glühende Farbpalette. Auf eine virtuelle Zeitreise entführt in der Turmkapelle ein 3-D-Film zur Baustelle von St. Marien um 1320. Die Kamera bewegt sich mit subjektivem Blick in schwindelerregende Höhen. Dadurch entsteht der Eindruck, live dabei zu sein, wenn die Maurer auf ihren Steckgerüsten, also ohne jede Sicherung, mit Mörtel und Kelle hantieren. Wie viele Männer sind damals abgestürzt, haben ihr Leben riskiert? Beladen mit Backsteinen kletterten Handwerker Leitern und Rampen aberwitzige zwanzig, dreißig Meter hoch. Bauholz schlugen sie mit der Axt in die erforderliche Form, schnitten es mit der Schrotsäge auf die richtige Länge zu. Ochsenkarren schleppten die Backsteine aus der Ziegelei nahe der Kirchenbaustelle heran. Bis zu achthundert Steine verfugte ein Maurer pro Tag, hinzu kam die Kunst des Wölbens – Schwerstarbeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Über hundert Jahre gingen ins Land, bis St. Marien fertig war. Wobei »fertig« als Ausdruck nicht wirklich passt, da es in der Kirche irgendwo immer eine Baustelle gab, wie in allen anderen Ostseebacksteindomen auch. Am Schluss des Filmes, wenn das Auge der Kamera um die Achteckpfeiler an den Mittelschiffarkaden schwebt und durch die blaugrauen bleiverglasten Fenster Hoffnung verheißendes Licht hereinfällt, glaubt man, die gewaltigen Raumdimensionen real wahrzunehmen.
In dreiundzwanzig Sekunden fiel das Mittelschiff 1960 nach Zündung des Sprengsatzes in sich zusammen. Das dokumentiert ein heimlich gedrehtes Privatvideo (inzwischen auf YouTube ) von einem Wismaraner damals.
Die St. Marien Kirche wird nicht wieder aufgebaut. So der aktuelle Stand. Viele Einheimische macht das traurig. Viele sind enttäuscht, schütteln verständnislos den Kopf. Neuerdings aber, sagen die Ausstellungsmitarbeiter, entlade sich unter den Besuchern immer häufiger Zorn. Leere Kassen? Lächerlich! Das jüngste Kapitalverbrechen, in der Sprache der Politik verharmlosend Krise genannt, hat alle Sparappelle und Sparmaßnahmen ad absurdum geführt. Denn aus welchen Kanälen, bitte, flossen plötzlich jene Unsummen, höher als die Wiedervereinigungskosten, mit denen zum Beispiel sämtliche »Kirchen in Not!« auf den Listen der Deutschen Stiftung Denkmalschutz hätten restauriert werden können? Vor lauter Freiheit, die unsere Gesellschaft so gemütlich macht, verzichten Kanzleramt & Co. darauf, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, federn sie sie obendrein mit horrenden Bürgschaften ab – dabei sind wir das Volk, steht unser Geld auf dem Spiel, warum ist es in Deutschland so still?
1989, nach dem Fall der Mauer, hatte Superintendent Christoph Pentz in einer Rede an die Wismarer Bürger erklärt, dass etwas Neues »wächst«, etwas, das eine »neue Qualität« haben wird. Zuvor verbeugte sich der Kirchenmann vor der friedlichen Revolution, die es bis dahin in der deutschen Geschichte noch nie gegeben hat. Wird eine zweite kommen?
Der Grundriss von St. Marien ist seit einer Weile wieder sichtbar. Verschwunden der Parkplatz, der beschämend lange auf dem Areal der historischen Grabplatten lag. Ruhebänke und Skulpturen stehen nun dort. Linden wurden gepflanzt. Bis auf Brusthöhe, mehr ist nicht geplant, zog man die Grundmauern der Basilika hoch. Dabei packten viele Hobbymaurer mit an, half die Jugendbauhütte Wismar, kamen große Backsteinspenden von Gästen zusammen.
Die Zahl der Ausstellungsbesucher von St. Marien (seit 2002 über eine Million!) steigt von Jahr zu Jahr. Ein gutes Zeichen. Die Sehnsucht nach tradierten Werten ist wieder da. Zugleich spricht sich immer mehr herum, dass der Turm seit der Sprengung der Kirche 1960 endlich wieder besichtigt werden kann. Zwar trifft man oben, nach dreihundertsechsundzwanzig Stufen, keinen Turmwächter mehr an, der die Luken im Zifferblatt der Turmuhr öffnet, um Feind und Feuer zu erspähen und zu melden, wenn hinter der Halbinsel Poel auf offener See Gewitter heraufziehen. Grandiose Aussichten bieten sich jedoch auch etwas tiefer unterm
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