Lesereise Backsteinstaedte
Deutschlandweit sind sie umhergereist, ließen sie sich beraten, inspirieren, besuchten sie Lieferanten, machten sie sich von vergleichbaren Lokalitäten ein Bild. Lange liebäugelten sie damit, ihre »Mittel zum Leben«, wie sie es ausdrücken, aus Italien oder Frankreich zu beziehen. Am meisten überzeugte sie aber letztlich, was sie in den Mecklenburger Dörfern entdeckten, zum Beispiel in einer Ziegenkäsemanufaktur am Schaalsee, wo bis 1989 die deutsch-deutsche Grenze lag. Dort bestellen sie seither die »Dicke Liese«, einen milden Weichkäse, pikanten Ricotta mit Trüffelöl und zum Überbacken sahnige Ziegenrollen. »Sanddornsaft kaufen wir gleich um die Ecke in Lübseerhagen in einer alteingesessenen Mosterei.« Die Löwenapothekengäste begeistert das. Viele reisen aus Hamburg an, sogar aus Zürich, aus Stockholm sowieso. Und schon morgens um neun trudeln die Ersten zum Frühstück ein – dem besten weit und breit. Das ofenwarme, duftende Landbrot aus einer Schweriner Bäckerei, ein Gedicht!
Gern hätten Doreen Rump und Doreen Heydenbluth Teile des ursprünglichen Apothekenmobiliars für ihr Café übernommen. Doch niemand weiß, wer es sich im Ost-West-Gerangel unter den Nagel gerissen hat. Auch wertvolle Haustüren und Stuckaturen verschwanden damals in Wismar über Nacht. Sogar der goldene Löwe überm Apothekenportal war plötzlich abgeschraubt, tauchte aber wieder auf. Als erste Neuanschaffung für ihr Café ersteigerte eine der Doreens bei Ebay einen riesigen alten Ladenschrank. Von einem Antiquitätenhändler kaufte die andere acht quadratische Tische und dazupassende Stühle aus den dreißiger Jahren. Das Nichtraucher-Café der beiden (»Ihr seid ja total verrückt!«) kam in Wismar an, lange bevor die öffentlichen Debatten zum Rauchverbot begannen. Inzwischen ist die Alte Löwenapotheke eine Institution, kommen die Leute selbst bei vierzig Hitzegraden vom Strand.
Auf der Lesebühne WORTREICH wird nach einer guten Stunde eine kurze Pause gemacht. Vorn in der Diele, nicht ganz so geräumig und hoch wie die Lübecker Vorbilder, aber mit dem gleichen Flair, liegen auf einem Büchertisch Publikationen des Autorentrios aus, daneben Flyer mit der Lesebühnen-Vorschau für das laufende Jahr. Die Themenschwerpunkte wie immer pfiffig, aber auch aufstörend und schrill. »Den Januarabend hätten sie erleben müssen!«, schwärmt ein offensichtlicher Stammgast und richtet sich damit an alle, die in der Diele stehen. Knast- und Küchenstorys wurden da in Versen und Monologen serviert, »abgekocht & eingeweckt«. Zu Gast war die schreibende Anstaltsärztin Barbara Nieszery aus der Bützower Strafanstalt Drei Bergen. Musikalische Zwischentöne lieferte der Gitarrist Christian Röhl aus der Wismarer Rockband »Absurdt«.
Auch heute gibt es in der Alten Löwenapotheke einen schreibenden Gast. Das ist fester Bestandteil jedes Lesebühnen-Programms. Der Gast geht nach vorn, nimmt Platz und beginnt mit leiser Stimme, die in sich gekehrt wirkt, man könnte eine Stecknadel fallen hören: »Das Meer ist uns fremd, obwohl wir aus ihm kamen … Das Meer ist die größte Schatzkammer, vermuten wir. Wir wissen nichts über das Meer …« Der schreibende Ruheständler, einst Mitglied im Neuen Forum, auch ihn kennen fast alle, war ab 1992 Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident. Doch weder macht er, Berndt Seite, Aufhebens darum, noch macht es das Publikum. Viele kommen nach der Lesung zu ihm, kaufen sein selbst verlegtes »Strandgut«, das der Buchhandel nicht führt, und lassen es sich von ihrem einstigen Landesvater, dem studierten Tierarzt, mit persönlichen Widmungen signieren.
Nachwandelnde Erinnerungen bleiben am Ende des Abends, bleiben von Wismar, vom Markt, von den Straßen und Gassen, die nach Fischern, Gerbern, Webern, Sargmachern, Böttchern benannt sind. Der Stolz der Hanse und ihrer Kaufmannsgilden ist in der Meeresstadt noch immer zu spüren. Aus dem Hafen weht das Gekreische der Möwen. Und es scheint so, als würden die Löwenapothekerinnen in altbewährter hanseatischer Tradition ausgesuchte Handelsbeziehungen pflegen und Netzwerke knüpfen, abseits vom lärmenden Kommerz.
Nicht jeder hat ihre feine Kost schon probiert. Und hin und wieder gibt es verdutzte Gesichter, auch grimmige Mienen, weil die Alte Löwenapotheke keine Rezepte mehr einlöst. Wie wär’s mit einer »Pflaumen-Vanille-Frischkäse-Verführung«? Oder einem Sanddorn-Likör?
Extratour übers Himmelreich
Im Münster Bad
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