Lesereise Kanarische Inseln
Geröll unter den Bergstiefeln weg. Alles war lose, bröckelnd, unstet. Kurz vor dem Ziel zogen Schwefeldünste aus gelben, wie eitrig verkrusteten Spalten und machten das Atmen in der dünnen Luft noch schwerer. Uns wurde speiübel. Der Gipfel kam ganz plötzlich – kein letzter jäher Fels, sondern ein mickriger Krater von wenigen Metern Durchmesser.
Aber der Blick war überirdisch: der gesamte Archipel der Kanarischen Inseln im Blau des Atlantik gefasst, jede Insel ein Juwel und dabei klein wie Jim Knopfs Lummerland, jedenfalls von diesem Berg aus gesehen, der nur einen Meter weniger als der Fuji misst und sich nicht minder dekorativ ausnimmt. Wir hatten den König der Kanaren bezwungen, schnauften und staunten. Auf dem Rückweg rollte der Lavaschotter noch tückischer unter den Füßen als beim Aufstieg.
Der Pico del Teide macht es einem nicht leicht. Inzwischen braucht man sogar eine schriftliche Genehmigung, um auf seinen Gipfel zu gelangen. Das Datum ist festgelegt, ein Zwei-Stunden-Zeitfenster für den Aufenthalt auf seinem Dach exakt limitiert.
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Aber einmal soll es noch sein. Wir haben das permiso mit der Nummer 8086 vom Ministerio del Medio Ambiente. Wir haben zwei Tage an unseren Urlaub auf der Nachbarinsel angehängt und einen Flug hinüber nach Teneriffa gebucht, um dem Gipfel die Ehre zu erweisen. In strahlender Sonne fliegen wir von La Palma ab. Und landen schlingernd in Wasserlachen, bei strömendem Regen auf dem Aeropuerto de Tenerife Norte bei Los Rodeos. Die Sicht auf der Straße hinauf ins Hochland ist gleich Null. Die Fahrt ist eine Höllentour: Windböen, Nebelschwaden, Sturzbäche auf dem Asphalt und abgerutschte Bankette.
Urplötzlich ist alles anders. Kurz hinter dem Mirador de Chipeque reißt der Himmel auf. Die Piste dampft in der Sonne. Die Wasserlachen darauf blinken wie Spiegel. An den Kiefernnadeln glänzen die Regentropfen wie Brillanten. Und unter uns liegt ein watteweiches weißes Meer, das schon Humboldt voller Staunen beschrieben hatte – die an den Hängen des Hochlands in einer Höhe von tausend bis fünfzehnhundert Metern gestauten Passatwolken. Im Gegenlicht wirkt der Teide wie ein bläulich kalter Riese, obgleich er kaum Schnee auf dem Gipfel trägt. Der Sommer hat ihm das Haupt verbrannt. Und die Pelzmütze setzt er sich wohl erst in ein paar Wochen wieder auf, wenn der Winter einbricht.
Es wird heiß hinter den Autoscheiben und erfrischend-kühl, sobald man den Wagen verlässt. Fast zwei Dutzend Spaziergänge und Wandertouren, im deutschsprachigen Prospekt »Reisen« genannt, sind im Parque Nacional del Teide ausgewiesen. Sie reichen
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vom kurzen Abstecher per pedes zum nächsten Aussichtspunkt über kommode Rundwege für die ganze Familie bis hin zu anspruchsvollen Touren von neun Stunden durch die Gesteinswüste der riesigen Hochebene. Von Kupferadern durchzogene türkise Felsen sieht der Wanderer, dann schweflig gelbe Gesteinsschichten, anderswo rosa Findlinge oder schrundig schwarze Brocken aus Obsidian, die wie Skulpturen aussehen. Manchmal ist das vulkanische Material ockerfarben und nur erbsengroß, dann wieder liegt Stricklava in rostrote Haufen gegossen, die wie Kuhfladen wirken. Niemand darf im Park etwas zurücklassen, niemand etwas mitnehmen, das ist eherne Regel. Nur einmal im Jahr wird das Gebot durchbrochen, wenn die in allen Farben schimmernden Steinchen für den pastellbunten Fronleichnamsteppich in La Oratava gesammelt werden. Anderswo mögen Blumen gestreut werden; hier spendiert der Vulkan die steinerne Auslegeware fürs Gotteslob. Die Bergflora des Hochlands aber bleibt unangetastet, denn sie ist spärlich, dafür aber umso prächtiger: rote Natternköpfe etwa, die wie Altarkerzen aufragen, oder der weiß-rosa Teideginster mit einem Duft so süß wie Jasmin.
Las Cañadas del Teide heißt die Hochebene am Fuß des Berges. Bis 1954, als der Park gegründet wurde, gab es hier noch Hirten und »Eismänner«, die aus schattigen Spalten Blöcke brachen, damit die Fischer an der Küste den Fang kühl halten konnten. Das alles kann man in den beiden Besucherzentren in Cañada Blanca und El Portillo erfahren. Oder man läuft einfach los. Weil der Nachmittag sich
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schon neigt, wählen wir den Rundweg um die rosenroten Felsen der Roques de García, zwei Stunden bei flottem Ausschreiten, weniger als zweihundert Meter Höhendifferenz, ein Spaziergang fast. Die späte Sonne lässt das Schlackengekröse am Pico Viejo leuchten, als sei der Boden
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