Lesereise Kanarische Inseln
de Jandía, teilt ein schroffes Gebirge die Halbinsel. Auf der Nordseite des Gebirgszuges liegen nur wenige Kilometer zwischen dem über achthundert Meter hohen Höhenzug und der Playa de Cofete, auf die sich der Atlantik mit gewaltigen glasgrünen Brechern wirft. Der goldgelbe Sandstrand sieht einladend aus, aber das Baden ist hier lebensgefährlich. Die Sonne sucht man an vielen Tagen vergebens. Oft genug bleiben die Wolken an den Gipfeln von Jandía und Fraile hängen und verschatten die Landschaft. Der Wind rast den Abhang hinunter und bläst die Schaumkronen der Brandung ablandig dem Horizont entgegen.
Cofete, der einzige Ort weit und breit, rund zwanzig Kilometer auf ungeteerter Piste von Morro Jable entfernt, besteht aus einer Ansammlung windschiefer Hütten mit brummelndem Generator. In diesem unwirtlichen Flecken Land, der als Kulisse eines Film noir dienen könnte, ragt auf halber Strecke zwischen Meer und Gebirge ein riesiges zweistöckiges Anwesen im Zustand fortschreitenden Verfalls auf: die Villa Winter. Ein massiver
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Rundturm hält Wache wie bei einer Burg. Er darf wegen Baufälligkeit schon lange nicht mehr betreten werden, aber das erfährt man erst später. Die Piste zum Haus ist in so schlechtem Zustand, dass man sie nur mit einem Jeep befahren könnte. Also stellt man den Wagen am Wegrand ab und geht zu Fuß hinauf. Ziegenglöckchen bimmeln. Ein Mann melkt die Tiere, grüßt zurück. Ja, man dürfe einen Blick in die Villa werfen.
Das rostige Gittertor steht offen. Der Eingang dahinter wurde bereits einmal mit Hohlblocksteinen zugemauert, dann wieder aufgebrochen, um eine grob gezimmerte Tür einzulassen. Im Innenhof, vor den ewigen Böen geschützt, wachsen Bananenbäume. Die beiden Hunde Morena und Terrible springen einem entgegen. Sie bellen viel, aber beißen nicht. Eine Taube sitzt gurrend auf einem Balken, der reich beschnitzt in der Form einer Krokodilschnauze unter dem Dach hervorspringt.
Dann erst sieht man die alte Frau unter den Arkaden sitzen, in Kleidern, die so abgetragen sind wie die einer Greisin in einem bitterarmen Drittweltland. Um den Kopf trägt sie ein Tuch. Ihre Bluse ist purpurrot, aber zerschlissen und vorn mit einer Sicherheitsnadel zusammengehalten. Vor sehr langer Zeit muss Rosa eine Schönheit gewesen sein. Ihr charaktervolles, wunderbar proportioniertes Gesicht verrät es noch immer. Die Linse des rechten Auges ist trüb, aber die ganze Gestalt strahlt Würde aus.
Man muss die Stimme etwas heben, um mit Doña Rosa zu sprechen. Niemand weiß, wie alt Rosa Mato Viera ist, am wenigstens sie selbst. »Siebzig
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und irgendwas«, meint sie. Jedenfalls hat sie hier schon gelebt, als der von Einheimischen »Don Gustavo« genannte Deutsche sich das Anwesen errichten ließ und Rosa als Mädchen für alles einstellte.
»No tenia nada de bueno«, sagt Señora Rosa über ihren einstigen Brotherren, was heißt, dass nichts Gutes an diesem Menschen zu finden war. Der deutsche Ingenieur Gustav Winter, 1892 in Neustadt am Titisee geboren, lebte seit 1915 in Spanien und pachtete 1937 praktisch die gesamte Halbinsel Jandía. Was er mit dem riesigen Terrain im Süden Fuerteventuras wollte, weiß bis heute niemand genau. Winter war bereits 1926 am Bau eines Elektrizitätswerks in Gran Canaria beteiligt gewesen und soll später in einem deutschen Marinestützpunkt im besetzten Frankreich unabkömmlich gewesen sein.
1947 kehrt er zurück nach Fuerteventura, um sich mit Francos Gnaden in der Zucht von Schafen und Ziegen sowie dem Anbau von Tomaten zu versuchen. Das tat er recht erfolgreich und gegenüber den örtlichen Landarbeitern, laut den Aussagen Einheimischer, zugleich gnadenlos ausbeuterisch.
Um die »sagenumwobene« Villa Winter gibt es jede Menge Gerüchte. Tatsache ist, dass heute niemand mehr weiß, wann genau sie errichtet wurde. Klar ist nur, dass das Anwesen nie ganz fertig wurde und dass Don Gustavo hier niemals gewohnt hat, sondern auf der anderen Seite des Gebirgszugs in Morro Jable, unweit der Kapelle des Dorfes, das heute ein Touristenzentrum ist. Wer Rosa und ihrem Bruder Pepe erlaubt hat, samt Hunden und Ziegen ihren Lebensabend an diesem kalten und zugigen
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Ort zu verbringen, ist ebenso unklar wie praktisch alle weiteren Geschichten, die sich um die Villa Winter ranken. Gern kolportiert wird, dass Winter hier einen U-Boot-Stützpunkt für Nazi-Deutschland plante. Ebenso existiert die Version, die Villa sei als eine Art Alterssitz für Adolf Hitler
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