Lesereise Kanarische Inseln
noch für den lokalen Bedarf eine Rolle.
Bleiben also die gambas , wie die Touristen ob ihrer von der Sonne hummerrot gebrannten Haut gern von den Einheimischen genannt werden. Der Dienstleistungssektor, in erster Linie der Fremdenverkehr, erwirtschaftet rund achtzig Prozent des kanarischen Bruttosozialprodukts. Solange die Urlauber kommen, muss man nicht mehr auswandern. Manche Gäste wandern sogar ein, um hier das Alter zu verbringen, der ewigen Frühlingsgefühle halber.
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Spanien, das ist die »Halbinsel«, sehr weit weg und gern geschmäht. Spanien, das fügt sich mit seinen Gestaden vor allem ans Mittelmeer, hier aber herrscht der Ozean mit atlantischen Allüren. Wer sich darauf einlässt, spürt ein Amalgam aus salzsprühender Gischt, Möwenschrei und Fischgeruch, Kargheit und Kalktünche. Eine Mischung aus Sonnenglast und Melancholie.
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Die Anmutige gibt sich ein wenig spröde
Das winzige Eiland La Graciosa im Norden Lanzarotes würde auch Robinson und Freitag gefallen
Man muss auf La Graciosa kein Frühaufsteher sein. Bevor das erste Boot aus Órzola, dem nördlichsten Ort Lanzarotes, eintrifft, ist hier sowieso nichts los. Möwen segeln kreischend über dem Hafen, wo ein Fischer seine Netze sortiert. Der Kellner von der Bar Girasol spannt die Sonnenschirme auf der Terrasse auf, die Frau vom benachbarten Fahrradverleih schiebt ein paar Drahtesel nach draußen. Erst wenn die Fähre der Líneas Marítimas Romero gegen halb elf das spiegelglatte Wasser der Hafeneinfahrt durchschneidet, kommt so etwas wie Betriebsamkeit auf. Man sammelt sich am Kai, um den Landgang der Tagesausflügler zu begutachten. Ein kleiner Lieferwagen wartet darauf, die Waren für die beiden Gemischtwarengeschäfte aufzuladen. Ein Mann steht mit einem Schubkarren bereit, um das Gepäck eines Urlauberpaars zu übernehmen, das ein Appartement gemietet hat.
Herr Schmidt ist glücklich. Im Adamskostüm schlendert er vom Ferienquartier zum Strand, um das vormittägliche Schwimmprogramm zu absolvieren. So viel Freizügigkeit kann er sich problemlos leisten, ist er doch im letzten Haus von Caleta del
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Sebo untergebracht, nur ein paar Schritte vom blaugrünen Wasser der Bahía del Salado entfernt. Hier kommen ohnehin nur ein paar Wanderer vorbei. Auch die Gattin ist zufrieden mit dem Urlaubsziel. Rundum wohl fühlen sich die beiden, wird versichert. Dabei haben sie schon am zweiten Tag ihrer pauschal gebuchten Robinsonade den Reiseveranstalter angerufen und gebeten, in ein Hotel nach Lanzarote wechseln zu dürfen. Aber dort war man ausgebucht.
Wie viele andere Gäste waren die Schmidts zunächst ein wenig erschrocken, wie abgeschieden und einfach sich ihr Ferieneiland präsentierte. Es fehlte der übliche Zeitvertreib eines konfektionierten Kanarenurlaubs. Hier gibt es keine Busausflüge, keinen Bummel mit Leutegucken auf der Promenade, keinen Supermarkt mit zwei Dutzend deutschen Zeitschriften, kein heimatliches Bier vom Fass, keine Animateure, Spielhöllen und Poollandschaften. Erst auf den zweiten Blick haben sich die Schmidts in die kleine Insel verliebt, gehen wandern und radeln, entdecken einsame Strände und lesen so viel wie noch nie in einem Urlaub. Es soll aber auch andere Fälle geben: Paare, die mangels üblicher Zerstreuung auf La Graciosa an der eigenen Sprachlosigkeit verzweifeln und in eine ernsthafte Krise geraten.
La Graciosa ist mit siebenundzwanzigeinhalb Quadratkilometern die größte und einzige bewohnte Insel des Archipielago Chinijo, zu dem auch die noch kleineren Atlantiktrittsteine Alegranza, Montaña Clara, Roque del Este und Roque del Oeste gehören. Wie La Graciosa, diese Sandwüste mit ihrer
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Handvoll schon lang erkalteter Vulkane, die von der Erosion weitgehend verschliffen sind, zu dem wohlklingenden Namen »die Anmutige« kam, ist ungeklärt.
Wer im Norden Lanzarotes den von César Manrique gestalteten spektakulären Mirador del Río besucht, ein Aussichtsrestaurant, das wie das Auge eines Riesen aus der schwarzen Steilwand des Risco de Famara nach Nordwesten lugt, sieht die Insel Graciosa in ihrer ganzen Ausdehnung auf dem stahlblauen Tablett des Ozeans präsentiert. Aus der Luft betrachtet trägt das Eiland ohne Quellen seinen Namen zu Recht. Die Strände und Wüsten schimmern in Schminkfarben zwischen Rosa, Gelb und Goldbraun. Einzig das Häusergewürfel des »Hauptortes« Caleta del Sebo leuchtet in blendendem Weiß und verblüfft die Besucher vor allem mit seinen gelbsandigen Straßen,
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