Lesereise Kanarische Inseln
gab da eine plötzliche Lücke im Terminkalender, die Entscheidung musste schnell fallen. Wir buchten Flug und Appartement mit hundert Prozent Kinderermäßigung in Playa de las Américas.
Eigentlich gibt es nichts zu meckern. Das Appartement
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ist adrett, auf der Baustelle gegenüber ruhen wundersamerweise die Arbeiten, und der Strand wird täglich gereinigt. Unser Kind findet das Meer zu kalt zum Baden und den feinen schwarzen Sand zu pappig zum Kuchenbacken. Das Mistzeug bleibt in den Förmchen kleben. Die Tochter ist mitten in der Trotzphase und wirft sich bei der kleinsten Unstimmigkeit schreiend zu Boden. Der Familienvater ist keine Hilfe bei der Zähmung der kleinen Bestie. Er kann sich kaum bewegen, weil er in einem Anfall von Sportsgeist am ersten Tag in den eiskalten Pool gesprungen ist und nun unter Hexenschuss leidet. Er liegt jammernd im Liegestuhl und lässt sich die Zeitung holen. Die Tochter dagegen muss man mit »Ampel-Eis« gnädig stimmen. Ampel-Eis ist ein knallig rot-gelb-grünes einheimisches Giftprodukt, dessen Flecken nicht zu entfernen sind. Das Kind lutscht ein Gifteis nach dem anderen und schaut verdrossen unter dem Sonnenhut Richtung Ozean, auf dem die Motoren der Wassermopeds hysterisch kreischen. Das Kind will nicht spielen. Es weicht uns nicht von der Seite, weil es ebenso wie wir von der Furcht beherrscht wird, es könnte auf dem dicht mit Menschen bepackten Strand in null Komma nichts verloren gehen. Claude Lévi-Strauss sieht in der demografischen Explosion der Gattung Mensch die größte Gefahr für den Planeten Erde, lesen wir. Hier an der Playa de las Américas will das sofort einleuchten.
Das Meer ist mittels Wellenbrechern domestiziert, die die künstlich aufgeschütteten Buchten wie riesige steinerne Zangen umgreifen und dem
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Blick zum Horizont nur eine schmale Lücke lassen. Auf dem Wasser treibt ein feiner Film von tausendfach geschmiertem Sonnenschutz. Wenn man hinausschwimmt und auf die Küste zurückschaut, sehen die Hotelanlagen, die sich die Hänge hinauf schichten, wie ein monströses Amphitheater aus. Vereinzelt ragen die Hochhaustürme der touristischen Pionierjahre in den blauen Himmel. Die späteren Projekte mit ihren Südwestbalkonen reklamieren einen sogenannt landestypischen Stil, der von nordafrikanisch anmutenden Kuppelbauten über griechisch inspirierte Monumentalportale bis zum Zuckerbäckerstil Gott weiß welcher Prägung reicht. Manchmal sehen die Komplexe tatsächlich irgendwie spanisch aus, vergrößertes Abbild der kleinen Porzellankaten mit den aufgemalten roten Ziegeldächern und den vorspringenden Holzbalkonen, die in jedem Souvenirladen als putziges Mitbringsel ausgestellt sind.
In der Zeitung steht wieder einmal, dass die Ozonschicht unaufhaltsam dünner wird und die Hautkrebsrate weiter steigt. Einen Augenblick stellt man sich vor, was passierte, wenn das Sonnenlicht zur alles versengenden Gefahr geriete, das gewaltige Steingewürfel der Urlauberburgen plötzlich aufgegeben wäre, riesige Ruinen dann, wie verlassene Inkastädte etwa.
Im Supermarkt sucht man vergeblich nach frischen Nahrungsmitteln. Die meiste Fläche ist für Zigaretten, Spirituosen und Strandlaken verwendet. Es gibt kein Stück losen Käse oder frisches Gemüse, dafür aber fünferlei Sorten deutsche Doseneintöpfe
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und englische Baked-Beans-Büchsen. Der Schinken ist vakuumverpackt, die Äpfel sind eingeschweißt. Es riecht hygienisch rein nach Chlordesinfektion.
Die Speisekarten der zahllosen Kneipen teilen sich analphabetisch mit. Bunte Bilder von Frittenbergen, mal neben Würstchen, mal neben Fischfilets gehäuft, überall gleich. Der Geheimtipp im Hinterland, den mehrere »alternative« Reiseführer nennen, erweist sich als eine Abspeise, in der auf verschmierten Tischen in Paprika gewälzte, öltriefende Hühner serviert werden. Ihre Originalität erschöpft sich darin, ebenso rotbraun zu leuchten wie der Teint der sonnenverbrannten Gäste.
Abends kaufen wir neue Zeitungen und Ampel-Eis. Dann sitzen wir an der Promenade und gucken Leute. Die Engländer stecken auch dann in Shorts, wenn ein Sturmtief naht. Die Deutschen sind entweder halb nackt oder wie Bergsteiger ausgerüstet. Die älteren italienischen Damen tragen Häkelpullover und üppigen Schmuck wie daheim am heiligen Sonntag. Töchterchen ist entzückt von den streunenden Rudeln freundlicher Straßenköter, die von den Feriengästen satt gefüttert werden und darum nur ein Leben auf der Sonnenseite
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