Lesereise Mallorca
geht mit sorgsam gesetzten kleinen Schritten, nimmt nicht mehr drei Treppenstufen auf einmal wie damals, als er Mandarinenbote war. Inzwischen sitzt er leicht gebückt mit nach vorne geneigtem Kopf in seinem breiten Bürostuhl – und sieht gleichwohl jünger aus. Sein Haar ist noch immer nicht vollständig ergraut. In Strähnen ist es pechschwarz wie einst, wie auf den Fotos von damals, die ihn gemeinsam mit seinem engen väterlichen Freund zeigen. Pere Serra ist braun gebrannt, hat erstaunlich wenig Falten im Gesicht, dazu hellwache Augen. Der Mann, der da heute hinter seinem großem Schreibtisch im ersten Stock des Palau de Prensa, des Pressehauses, in der Innenstadt von Palma sitzt und von damals erzählt, von der Stimmung im Atelier, als diese Freundschaft ihren Anfang nahm, ist der Hüter eines großen Schatzes: seiner Erinnerungen.
Wenn es um Joan Miró geht, den er bewundert und geschätzt hat, dem er in jenem Atelier sogar als einer von ganz wenigen bei der Arbeit zusehen durfte und mit dem gemeinsam er so viel Zeit verbracht hat, dann hat er jedes Detail präsent, nichts verdrängt, nichts vergessen, erinnert sich genau an Mirós Händedruck, als hätte er ihn erst vor einer Stunde zuletzt gespürt. »Klar« sei der gewesen, »eher kurz, nicht sehr fest, schon gar nicht weich. Ehrlich und aufmerksam.«
Als junger Journalist wollte dieser Pere Serra versuchen, ein Interview mit jenem Miró zu führen. Der war seinerzeit gerade nach Mallorca gezogen und hatte sich dort gemeinsam mit seiner von der Insel stammenden Ehefrau Pilar und Tochter Maria Dolors in den Hügeln oberhalb von Cala Major niedergelassen – damals weit draußen auf dem Lande, wo ein Eselskarren Wasser, Milch und ensaïmadas , die mallorquinischen Teigschnecken, den Hang hinauf brachte. Heute ist daraus ein hässlicher Vorort mit ungepflegten Wolkenkratzern geworden. Betonspargel mit verdreckten Balkonverblendungen und nach frischer Farbe schreienden Fassaden flankieren das Grundstück. Das konnte damals niemand ahnen, als Miró sein Idyll im Grünen erwarb.
Als Künstler hatte er es längst zu Weltruhm gebracht und Geld hatte bei der Ortswahl nicht wirklich eine Rolle gespielt. Seine Werke mit den verspielt wirkenden Farbklecksen, mit dicken schwarzen Linien und stilisierten Figuren erzielten in Galerien rund um den Globus bereits Spitzenpreise, und selbst das renommierte Museum of Modern Art in New York, damals noch mehr als heutzutage so etwas wie der Welttempel der zeitgenössischen Kunst, hatte dem katalanischen Künstler, geboren in Barcelona, bereits 1941 eine große Retrospektive gewidmet: höchste und zugleich seltene Ehre für einen lebenden Künstler.
Im ersten Stock von Son Boter, dem Herrenhaus auf seinem Grundstück, hatte Miró bald ein Rückzugs- und Nachdenkzimmer eingerichtet – ein vergleichsweise kleiner, dunkler Raum mit roter Tapete und Holzvertäfelung, während alle anderen Räume strahlend weiß getüncht waren. Abgeteilt war eine kaum zwei Quadratmeter große nackte Kammer mit nichts als einem Stuhl. Dort saß er, um zu grübeln und hinter die großen Dinge zu steigen. Neben dem Eingang zu dieser Kammer hängt ein Schwarz-Weiß-Foto Picassos, ein Stück weiter weg sind gerahmte Porträts von Joan Mirós Eltern befestigt.
Eigene Spuren hat er in diesem Raum, der offenbar den leiblichen wie geistigen Vorfahren gewidmet war, nirgends hinterlassen, während die Wände der öffentlich nicht zugänglichen Nebenzimmer ebenso wie die des zur Besichtigung geöffneten Erdgeschosses mit flüchtigen Zeichnungen übersät sind, mit Linien, Bögen, Grundformen. Miró hat sie als Skizzenblock verwendet, hat Entwürfe für Skulpturen an diesen Wänden hinterlassen. Hier in Son Boter, diesem Landhaus aus dem 18. Jahrhundert, fühlte er sich geerdet. »Das hier ist die Wahrheit«, hat er einmal gesagt und dabei mit der Hand über die Wand des Gebäudes gestrichen: Alle Traditionen flossen hier für ihn zusammen, alles Grundsätzliche, dazu die Einfachheit der Formen. Hier fühlte er sich seinen Wurzeln nahe.
Weitgehend unbeachtet war er, der so lange in Paris gelebt und gearbeitet hat, nur in seiner Heimat geblieben. Spanien litt damals unter der Franco-Diktatur, und Kunstsinn war nicht gefragt. So hatte auch auf Mallorca kaum jemand mitbekommen, wer dieser anderswo gefeierte Miró war – und noch weniger, dass er sich 1955 jenes große Grundstück mit dem alten Landhaus Son Boter als Ateliergebäude auf der Heimatinsel
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