Lesereise New York
Atlantic Yards entdeckt, aber er hatte dafür eine ganz andere Vision als Ratner.
Goldstein liebte den rauen industriellen Charme der Ecke, er liebte den Mix an alteingesessenen Arbeiterfamilien, jungen Kreativen wie er selbst, Autowerkstätten und urigen Kneipen, die sich rund um die Stellgleise gehalten hatten. Deshalb kaufte er sich für wenig Geld ein Loft an genau der Stelle, an der zur gleichen Zeit Bruce Ratner seine Basketballarena plante. »Ich wollte dort leben, ich wollte dort meine Kinder großziehen«, sagt er der Versammlung der Old Reformed Church, für die er zu einer Art Märtyrer geworden ist.
Viele der Leute in der Kirche an diesem Abend gehören der Vereinigung »Develop Don’t Destroy Brooklyn« an, die Goldstein gründete, als er von Ratners Plänen erfuhr. Das Ziel war, den grandiosen Projekten des Moguls einen Plan entgegenzusetzen, der mit den Anwohnern arbeitet, anstatt sie zu verdrängen, der aus dem Gebiet einen kleinteiligen gemischten Wohn- und Geschäftsbezirk macht, der die umliegenden Viertel zusammenwachsen lässt, anstatt sie voneinander abzutrennen. Doch im Rückblick war der Widerstand, der zu einer sechs Jahre langen Schlacht um das Herz von Brooklyn führte, hoffnungslos naiv. Goldstein und seine Genossen mussten schmerzhaft erfahren, was in New York passiert, wenn man sich der Macht des Geldes widersetzt.
Ratner ließ seine politischen Verbindungen vom Bürgermeister bis zum Gouverneur spielen und das Gelände offiziell für verelendet erklären. Das erlaubte ihm, sowohl Hunderte von Millionen Dollar an Bausubventionen einzustreichen als auch die Anwohner zur Räumung zu zwingen. Mehr als achthundert Menschen bekamen bis zum Sommer 2010 den Bescheid, dass sie ausziehen müssen.
Goldstein war der Allerletzte, der ging, und das auch erst, nachdem er alle Rechtsmittel ausgeschöpft hatte. Er klagte bis zum Bundesgericht gegen die Verelendungsbestimmung. Er zweifelte die Gemeinnützigkeit von Ratners Plänen an. Er organisierte Demonstrationen und mobilisierte die Medien. Am Ende lebte er alleine mit seiner Frau in einem ansonsten verlassenen sechzehngeschossigen Gebäude – ein Michael Kohlhaas der Gentrifizierung.
Heute, im Herbst 2012, lebt Goldstein drei Häuserblocks entfernt in Park Slope in einem Haus, das er von der Abfindung gekauft hat, die er Ratner abgetrotzt hat. Doch er ist noch lange nicht fertig mit Ratner. Vor der Eröffnung der Arena verging kein Tag, an dem er nicht im Fernsehen Ratner anprangerte. Immer wieder wies er auf Ratners Versprechen hin, im Gegenzug für die Subventionierung Tausende von Einheiten bezahlbaren Wohnraums auf dem Areal zu schaffen sowie Zehntausende von Arbeitsplätzen. Bislang gibt es jedoch ausschließlich die Arena, das Schicksal der geplanten Wohntürme ist angesichts der Baisse auf dem Immobilienmarkt ungewiss. Die Anzahl der im Viertel geschaffenen Arbeitsplätze ist exakt vierzehn.
Auf einer Bank vor dem U-Bahn-Terminal Atlantic Avenue, direkt gegenüber dem Barclays Center, sitzt BC Hall, ein siebenundsechzig Jahre alter schwarzer Pensionär. BC ist vor fünfunddreißig Jahren nach Brooklyn gezogen, nach Bedford-Stuyvesant, damals eine Gegend, aus der man wegzog, sobald man es sich leisten konnte, und nicht ein Spielplatz für die Boheme.
BC gefällt die Arena, er findet den Bau mit seiner rauen Haut so ehrlich und hart wie Brooklyn selbst. Er kann es kaum erwarten, bis es hier losgeht. Die Verklärung von Brooklyn als dem Nicht-Manhattan, als dem besseren New York kann er nicht so recht verstehen. Die Garagenrock-Clubs und Techno-Partys, die Bio-Supermärkte und Kunst-Happenings sagen ihm wenig. Aber Profi-Basketball und Hip-Hop? Da greift er gerne schon mal etwas tiefer in seine Rentier-Kasse.
Uptown Blues
Jeden Sonntag wird in Marjorie Elliots Wohnzimmer in Harlem Jazz gemacht. Ohne Musik könnte Elliot nicht überleben
Es ist Punkt sechzehn Uhr an einem trüben Dezembersonntag und das wenige Licht, das vom Tag noch übrig ist, fällt fahl durch Marjorie Elliots Wohnzimmerfenster. Marjorie, eine schmale schwarze Frau unbestimmbaren Alters mit drahtigen schwarz-grau-rötlichen Haaren setzt sich, wie jeden Sonntag um diese Zeit, an ihr etwas abgewetztes und leicht verstimmtes Klavier. Dann schlägt sie eine Taste an und erweckt ihre Wohnung, deren einstige Eleganz sich unter dem bröckelnden Putz und dem stumpfen Parkett nur noch vage erahnen lässt, zum Leben.
Das Saxofon des jungen Mannes im dunklen Anzug neben ihr
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