Lesereise New York
fängt herzzerreißend an zu heulen, vom Flur her brummt der Kontrabass beruhigend um die Ecke, und die dreißig Leute auf ihren bis in die Küche gedrängten Klappstühlen sind innerhalb von Sekunden so von Marjories Blues hinweggespült, dass die große, unbarmherzige Stadt da draußen und das harte Leben in ihr aus den Gedanken verschwindet.
Früher, als Marjorie noch jung war, muss es wohl hier im ganzen Haus so zugegangen sein, wie jetzt nur noch sonntags in Marjories Appartment im dritten Stock. Früher tönte immer Jazz durch die Gänge von 555 Edgecombe Avenue in Harlems Sugar-Hill-Gegend, so genannt, weil das Leben hier in den dreißiger, vierziger und bis in die fünfziger Jahre, der goldenen Ära Harlems, so süß war. Damals, als die Namen an den Briefkästen sich lasen wie ein Who’s who des Jazz: Duke Ellington wohnte hier, Count Basie, Paul Robeson, der Betreiber des legendären Savoy Ballroom, Charles Buchanan, sowie unzählige weniger berühmte Jazzer.
Man kann den alten Glanz des Three Nickel, wie das stolze sechzehngeschossige Haus auf dem Hügel über dem Harlem River im Stadtteil heißt, noch in der Eingangshalle spüren. Sie ist mit weißem Marmor ausgeschlagen und an den Wänden hängen vergoldete griechisch inspirierte Friese. Marjories geräumige und helle Wohnung im dritten Stock hingegen ist so wie die ganze Nachbarschaft – einst zauberhaft gewesen, aber dringend renovierungsbedürftig. Draußen, auf der Edgecombe Avenue, türmen sich Müllberge, schwarze Jugendliche in Kapuzenpullis lungern rund um offene Autos herum, aus denen Rap dröhnt, und unter Baugerüsten an verfallenen Fassaden stinkt es nach Urin.
Aber Marjorie lässt sich nicht beirren. Ausnahmslos jeden Sonntagnachmittag veranstaltet die Bühnenschriftstellerin, Schauspielerin, Musikerin, Lehrerin und freiwillige Sozialhelferin ihre kostenlosen Hauskonzerte und hält damit die große Tradition des Harlemer Jazz am Leben. Zusammen mit dem Bassisten Bob Cunningham, der schon mit Dizzy Gillespie, Pharao Saunders und Art Blakey gespielt hat und der im Gegensatz zu Marjorie aus seinem Alter von dreiundsiebzig Jahren kein Geheimnis macht; zusammen mit dem jungen Franzosen Sedric, der, wie er sagt, nur wegen Marjories Salon nach New York gezogen ist und den Marjorie als »Teil der Familie« bezeichnet; zusammen mit Marjories Sohn, dem Pianisten Rudel, sowie mit einer jungen, ebenso bezaubernden wie nervösen Blues-Sängerin.
Dabei geht es Marjorie nicht um Nostalgie. Es geht ihr um die bedrohte Seele des Jazz. »Früher gab es hier in Harlem an jeder Ecke einen Club, wo gespielt wurde, und überall haben Musiker geübt. Die Musik war lebendig und es ging noch nicht nur darum, möglichst viel Geld zu verdienen. Heute kosten die Jazzclubs fünfzig Dollar Eintritt, und Musiker wie mein Sohn müssen betteln, fünfundvierzig Minuten spielen zu dürfen.«
So kann Jazz nicht leben und nicht atmen und deshalb verlangt Marjorie auch keinen Cent Eintritt. Auch nicht, wenn es ihr manchmal schwerfällt, ihre Miete zusammenzubekommen. Gerade deshalb erlebt der Besucher, den Marjorie an ihrer Türschwelle überschwänglich herzlich in ihr Heim bittet, den Jazz, wie er ihn an einem gedeckten Tisch in einem der kommerziellen Clubs downtown niemals erleben könnte. Man hört das Klappen der Saxofonventile, wenn Sedric nur Zentimeter vor einem die Tonlage wechselt, man sieht das leichte Zittern der jungen Sängerin unter ihrem schwarzen Kleid, während sie mit überzeugender Verzweiflung in b-Moll Cole Porters Frage in den Raum stellt: »What Is This Thing Called Love?« Nichts steht hier zwischen den Musikern und dem Publikum, es gibt keinen Schutz davor, gemeinsam mit der Musik zu verschmelzen.
»Man hat keine andere Wahl hier, als ehrlich zu spielen«, sagt Sedric, während er in der Pause am Klavier steht und einen Apfelcider trinkt, den Marjorie den Gästen in kleinen Plastikbechern serviert. »Man kann hier nicht angeben. Es ist absolut rein, und man wird daran erinnert, warum man überhaupt Musiker geworden ist.«
Wahrhaftig sind die Sessions jedoch vor allem wegen Marjorie. Als sie 1994 mit den Salons anfing, war ihr Sohn Philip gerade im Alter von zweiunddreißig Jahren an einem Sonntag gestorben. Sein Foto hängt heute in einem Goldrahmen als einzige Dekoration auf dem vergilbten Putz über dem Klavier. An Werktagen konnte Marjorie mit dem Schmerz leben, doch am Sonntag überwältigte er sie. Deshalb beschloss sie, dass sie sonntags
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