Lesereise New York
nachschauen, während er in gleichbleibend ruhigem Tonfall alle nur erdenklichen Fragen beantwortet und dazwischen kaum einmal Luft holt.
Erst als gegen zehn Uhr am Vormittag der Menschenstrom abebbt, ist es möglich, innezuhalten und die ganze Pracht des fast hundert Jahre alten Beaux-Arts-Baus auf sich wirken zu lassen, der Ende der neunziger Jahre für zweihundertfünfzig Millionen Dollar vollständig restauriert wurde. Aus zwanzig Meter hohen schlanken Bogenfenstern an der Ost- und der Westseite der großen Halle fällt schräg das Licht auf den polierten Sandsteinboden, der sich tausend Quadratmeter weit ausbreitet. Die Fahrscheinschalter an der Nordseite sind mit verschnörkelten Messinggittern verziert, und über dem Pavillon in der Hallenmitte thront die berühmte vierblättrige Uhr aus Opalglas, deren Wert auf zwanzig Millionen Dollar geschätzt wird. Die Gleise, zu denen niedrige Rundbögen führen, sind tief unter der Erde versteckt. Von lautem Bahnverkehr und hässlichen modernen Zügen ist weit und breit nichts zu sehen.
Es ist kaum zu fassen, dass noch vor zwanzig Jahren Grand Central ein heruntergekommenes, schmuddeliges Asyl für Obdachlose und Drogenabhängige war. Das Schrumpfen des Bahnverkehrs zugunsten von Flugzeug und Automobil hatte die Instandhaltung des opulenten Baus nach dem Krieg immer schwieriger gemacht. Die Finanzkrise der Stadt New York tat ihr Übriges. Ende der sechziger Jahre sollte der Prachtbahnhof sogar abgerissen werden.
Doch eine Bürgervereinigung unter Führung von Jackie Onassis stemmte sich gegen die Abrissbirne und klagte vor dem Obersten Gerichtshof erfolgreich den Denkmalschutz für das Gebäude ein. Mitte der neunziger Jahre, als die Stadt in Geld schwamm, restaurierte die Bahngesellschaft MTA dann das Gebäude für die Pendler aus den wohlhabenden Vororten im Norden, die jeden Tag hier ankommen.
So ist Grand Central heute ein Palast, dessen Prunk die ganze Macht der Wirtschaftskapitale New York ausstrahlt. Jetzt, zwischen Morgen-Rushhour und lunch , wird Grand Central plötzlich immer weniger Verkehrsknotenpunkt und immer mehr eines der vornehmsten Einkaufs- und Dienstleistungszentren von Manhattan. In der Ost-Lobby, einer kleinen Halle nahe dem Ausgang zur Lexington Avenue, gönnt sich ein Geschäftsmann eine kleine Arbeitspause am Vormittag. Er hat sich in einem der ausladenden Ledersessel der Schuhputzer dort niedergelassen, die Boulevardzeitung Daily News auf seinem Schoß ausgebreitet und lässt sich seine hellbraunen Lederslipper für drei Dollar polieren. »Spit and Cream« heißt die Behandlung, aus der Zeit, als die Schuhputzer tatsächlich noch mit Spucke arbeiteten.
Zwischen der Haupthalle und der Lexington Avenue werden die Auslagen des vornehmsten Lebensmittelmarkts der Stadt auf den Shopping -Ansturm zur Mittagspause hergerichtet. Unmengen von Forellen aus Idaho und Lachsen aus Alaska, Schinken aus Tirol, Pecorino aus der Toskana und Champagner aus der Champagne warten appetitlich drapiert auf die verwöhnten shopper . Gleichzeitig bereiten sich im Tiefgeschoss, in einer kleineren Halle unter der Haupthalle, die Lebensmittelstände und Schnellrestaurants auf die Lunch -Zeit vor. Bei Hale and Hearty Soups dampfen aus mindestens drei Dutzend Töpfen ebenso viele Suppensorten, daneben bietet die Brooklyner Traditionsgaststätte Junior’s ihren berühmten Käsekuchen an. Dazwischen kann man zwischen Sushi, Curry oder koscheren knishes wählen, Sandwiches mit allen nur denkbaren Belägen von Roast Beef bis zu gegrilltem Gemüse, Jumbobrezeln mit Senf oder Eissorten mit Geschmacksrichtungen von grünem Tee bis zu weißer Schokolade.
Links führt ein schmaler Gang noch tiefer in das Innere des Bahnhofs zu einem weiteren Gewölbe, das sich plötzlich überraschend vor einem auftut. Durch den Saal von der Größe eines Münchner Bierkellers schlängelt sich die endlos lange Theke der Oyster Bar. Dutzende von Austernsorten vom Fischmarkt in der Bronx warten dort auf Eis in Holzkisten darauf, bei einem Champagner oder einem Martini zum Abschluss eines Multimillionen-Dollar-Deals oder auch nur zu einem raschen Rendezvous geschlürft zu werden.
Graham Peake hat sich heute allerdings nicht für Austern, sondern für Farfalle Putanesca entschieden. Der britischstämmige Unternehmensberater sitzt in einem legeren Strickpullover an der Theke des Pepe Rosso, einem italienischen Fast-Food-Kiosk mitten im Dining Court, der Fresshalle im Untergeschoss zwischen den
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