Lesereise Nordfriesische Inseln
Billigflieger in die Dom. Rep.
»Nordsee und Wattenmeer« steht heute auf dem Veranstaltungsplan. Zwei Drittel der Stuhlreihen sind schon besetzt, obwohl der Dia-Abend erst in fünfunddreißig Minuten anfängt. Wer auf den letzten Drücker kommt, muss mit den hintersten Plätzen vorliebnehmen.
Pünktlich auf die Minute geht es ohne Gedöns los, begrüßt Georg Quedens, der ohne Weiteres auch als Seemann a. D. firmieren könnte, die sehr verehrten »Daamen und Herrren …!«, wobei er das »r« derartig rollt, dass der Boden vibriert. Seine eigentliche Spe-zi-a-li-tät sind jedoch seine akzentuierten Silbentrennungen und das Stolpern über’n spitzen Stein, also mit scharfem »s« statt »sch«. Das lieben die Leute.
Klick. Das erste Dia. Klick. Das zweite. Nicht etwa eine Fernbedienung führt durch das Programm, schon gar keine digitale Technik. Georg Quedens bewahrt seine Dias in Holzmagazinen auf, steckt sie von dort in die altbewährte Doppelhalterung an seinem Projektor und wirft sie, abwechselnd rechts und links vor die Linse schiebend, an die Wand – Zuschauern bis Baujahr 1960 im Saal wohlvertraut. Wolkenouvertüren stimmen das Publikum ein: im Flirt mit der Sonne, in Nebel gehüllt, von Blitzen durchschnitten, Sturm gehetzt, komponiert in Gelborange, Glühendrot, dramatischem Blauschwarz – heitere Wolken, die anhaltendes Hoch versprechen, Unwetterwolken, »Vogelwolken«, Wolkenkolonnen, Wolkenalleingänger erhaben über der Weite des Watts. Georg Quedens hat ungezählte Wolkenbilder fotografiert. Verrückte reisen nur ihretwegen nach Amrum.
Klick. Ein anderes Motiv: die Rippelmarken. So werden jene Muster genannt, die Strömung und Wellen in den Meeresboden gravieren und sich bei Ebbe wie preisgekrönte grafische Kunstwerke offerieren. Nach der Flut wird sich kein Muster je wiederholen, kein einziger Lichteinfall, kein Schattenwurf. Der Gezeitenwechsel bringt ständig neue Sandstuckaturen hervor. Doch nicht nur das: auch – klick, klick – Rinnsale und Sandhügel und Priele. Bewunderungsseufzer laufen durch die Reihen, als Georg Quedens seine atemberaubenden Luftaufnahmen der amphibischen Landschaft zeigt: Endlose feine Wasseradern, die sich wie in einem Flussdelta über den trocken gefallenen Meeresboden ziehen. Demut füllt den Raum. Und Schweigen.
Schließlich, klick, klick, klick, ganze Serien über Alpenstrandläufer, Knutts und Regenpfeifer, die sich in der Schlemmeroase Watt mit Schlickkrebsen, Muscheln, Wattschnecken vollfressen. Dann Bilder von Möwen in der hohen Schule des Fliegens: Sturmmöwen, Silbermöwen, Lachmöwen und natürlich Heringsmöwen, die nur Fisch mögen und mit über zehntausend Brutpaaren auf Amrum leben. Ferner immer wieder, klick, klick, Leinwand füllende Nahaufnahmen der streitlustigen Brandgänse mit dazugehörigen Familienporträts. Die Paare dieses bunten Federviehs dulden keine anderen Brandganspaare neben sich, weder zu Wasser noch zu Lande. Das führt zu schnatternden Szenen zwischen den Ehen, was die Brandgansküken beider Parteien mächtig erschreckt und instinktiv zusammenrücken lässt. Ist das Gezänk vorbei, kriegen Gänsemütter und Ganter ihre Winzlinge oft nicht mehr auseinander sortiert. Trauriges Ende vom Lied: Schon manch ein Brandganspaar wurde auf diese Weise ungewollt kinderlos, während ein anderes ab sofort mit doppelt reichem Kindersegen übers Wattenmeer zog.
Stundenlang könnte man Georg Quedens zuhören. So zum Beispiel auch über die Ölkatastrophe 1998. Der italienische Holzfrachter »Pallas« lief damals vor Amrum auf Grund, nachdem er südwestlich vor dem dänischen Esbjerg in Brand geraten war. Neunzig Tonnen Öl verpesteten die Nordsee, über zwölftausend Seevögel verendeten. Amrum-Gäste von nah und fern hatten sich in jenem schwarzen Herbst in Massen gemeldet, um bei der Rettung der Havarie-Vögel zu helfen. Vom Amrumer Leuchtturm aus ist das Wrack der »Pallas« zu sehen – ein Mahnmal gegen die Gefahren der Schifffahrt und das Primat von Maßlosigkeit und Profit. Dank strenger Schutzbestimmungen konnten sich die Vogelbestände wieder erholen. Amrum ist heute die Nordseeinsel mit den meisten Seevögeln, nirgendwo brüten mehr als hier. Kolonien von Zwergseeschwalben gehören die Odde, und es bleibt ihr Revier, für die Spezies Mensch weiträumig abgesperrt.
Der Dia-Abend neigt sich dem Ende zu. Als Junge, erzählt Georg Quedens in seiner beherzt humorigen Art, war er »Wildkaninchenfänger, Schollenangler und
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