Lesereise Nordfriesische Inseln
Möweneierräuber«. Als Naturfotograf verbrachte er seither Stunden und Aberstunden im Freien auf der Lauer liegend, bis ihm ein Kiebitz oder Rotschenkel in den Marschen vors Teleobjektiv hüpft. Seine Frau befürchte, dass er eines Tages tot im Foto-Tarnzelt umkippt. Na und? »Besser als in der Badewanne einer Intensivstation.« Applaus. Gelächter. Licht an. Der Dia-Abend ist aus.
Lebenskünstler
Rund um die Amrumer Salzwiesen
Frühmorgens im Mai oder noch jungen Juni, wenn das Licht des Nordens in Tausenden von Prismen auf dem Meeresspiegel reflektiert, kündet das Watt vom Paradies. Die Salzwiesen sehen dann wie Aquarelle aus. Schimmerndes junges Grün fließt in singendes Goldgelb: Froh zu sein, bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König! Im warmen Sandwattbraun lächelt Violett, von der Strandgrasnelke, friesisch: Kraansblume , hineingesprenkelt.
Salzwiesenpflanzen tragen extravagante Namen: Strandsode, Salz-Schuppenmiere, Portulak-Keilmelde. Die meisten von ihnen werden nur von Kennern wahrgenommen. Weithin geläufig dürfte hingegen der Strandwermut sein, speziell der bittere Geschmack seiner weißfilzigen, gefiederten Blätter. Schon ein einziger Tropfen genügt, um die Stimmung in den Keller zu manövrieren. Einst gab es den Brauch, ahnungslosen Verehrern mittels Wermutszweig zu verklickern: Bin schon vergeben, Pech! So wurde der Wermutstropfen zum geflügelten Wort.
Wie alle Salzwiesenpflanzen steht der Strandwermut, friesisch: Noppekrut , unter Dauerstress, verursacht durch die permanente Salzzufuhr – dreihundertsechsundfünfzig Tage im Jahr. Um das innere Gleichgewicht zu halten, funktioniert jede Salzwiesenpflanze wie ein chemisches Labor, bestimmt von den Codes: Aufnahmesperre, Lagerung, Ausscheidung, Transport. Im Falle des Strandwermuts schützt ein Pelz auf den Blättern vor übermäßigem Wasserverlust, sodass stets nur wenig Salzwasser aufgesaugt werden muss. Passiert es doch, leitet es die Pflanze in ihre schon alten Blätter und wirft diese ab. Den ätherischen Ölen im Strandwermut wird eine halluzinatorische Wirkung nachgesagt. Auf den Halligen nennt man das Kraut darum »Hallighasch«.
Von den Salzwiesenpflanzen und ihren Überlebensstrategien kann der stressgeplagte Mensch unserer Hemisphäre eine Menge lernen. Indem er sich Stressmacher (die so heißen, weil man sich Stress selbst macht) vom Halse hält oder bewusst gering dosiert. Fast jeder ist heute im Stress. Immerzu. Vom Aufsichtsratsvorsitzenden bis zur Aufwartefrau. Eine Epidemie, die sich auszubreiten droht. Einer ihrer Erreger, vom Kanzleramt künstlich in die Welt gesetzt: das Ungetüm Wachstumsbeschleunigungsgesetz. »Dat hebbt wi fröher nich kennt«, lasen wir vor einer Weile im Insel-Boten in der Kolumne »Extra-Platt«: »Fröher wär man jümmer ›in’n Draff‹ oder man harr ›den Kopp vull‹ oder man harr dat ›ielig‹ oder man wüß’ vor Arbeid ›nich een un ut‹ oder man leep ›mit de Tied üm de Wett‹. Dat gifft dat allens gor nicht mehr.«
Doch, gibt es noch. Bei den Lebenskünstlern rund um die Amrumer Salzwiesen, den stillen Experten im Umgang mit stressigen Lebensbedingungen.
Beispiel 1: der Strandflieder, friesisch: Oon bleeden . Überschüssiges Salz, das der Pflanze nicht bekommt, wird über Exkretionsdrüsen ausgeschieden. In Form von Salzkristallen versammelt es sich an ihren Blattunterseiten. Die Prozedur kostet viel Kraft. Umso erstaunlicher, mit welcher Gastfreundschaft der Halligflieder-Spitzmaus-Rüsselkäfer vom Flieder empfangen wird. Glücklich und zufrieden wohnt er in ihren fotogenen Wiesenteppichen.
Beispiel 2: der Meerstrandwegerich, friesisch: Sudjen . Das pausenlose Zuviel an Meeressalz lagert er in seinen dickfleischigen Blättern ab. Früher kochten die Inselfriesen daraus würziges Gemüse. Ähnlich wie der Strandflieder bietet der Meerstrandwegerich trotz belastender Lebensumstände Vorbeikommenden Kost und Logis, beispielsweise kleinen Schmetterlingen. Häufigster Gast ist der Galluskäfer samt Parasit, der Meerstrandwegerich-Gallusrüsselkäfer-Schlupfwespe.
Beispiel 3: das Andelgras, friesisch: Oon , nicht zu verwechseln mit Eon. Diese Salzwiesenpflanze punktet mit der Fähigkeit, Sedimente dauerhaft festzuhalten, weshalb sie sich als »Marschbildner« großer Beliebtheit erfreut. Mittels einer Membrane fängt sie das angeschwemmte Salz ab, sodass nur das Meereswasser in ihre kahlen, glatten Halme gelangt, nicht aber das Meersalz.
Salzwiesen werden nach
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