Lesereise Nordfriesische Inseln
unbefestigten Ufern auf historischen Fotografien. Mit dünnen Streifen aus Muschelgruß durchzogene »Sturmflutschichten« sind da deutlich zu sehen – Sinkstoffe, die die Meereswellen anschwemmten.
Anders als auf Amrum, Föhr und Sylt ist die Nordsee auf den Halligen immer präsent, von jedem Punkt aus im Blick. Wind und Wasserkraft haben hier das absolute Sagen, demonstrieren seit jeher ihre Macht. Leben bedeutete bis vor nicht allzu langer Zeit Überlebenskampf. Die heutigen Halligen waren einst ungleich größer, etwa ein Viertel bis ein Drittel nur ließ ihnen im Laufe der Uthlandgeschichte die Flut. Die Hallig Jordsand wurde gänzlich verschluckt. Sie lag östlich von Sylt. 1807 gab es noch mehrere Warften auf dem vierzig Hektar umfassenden Fleckchen, 1895 hatte sich dieser um die Hälfte durch sandsüchtige Fluten reduziert, die letzte Warft wurde im Sturm zerstört. Übrig blieb nichts als Weideland. Und ein Vogelschutzgebiet, errichtet vom 1907 gegründeten Verein Jordsand, der sich bis heute für das Wohl der Seevögel an der Nordseeküste einsetzt. Bald betrug die Hallig Jordsand nur noch zwei Hektar, was man sich in der Länge und Breite als Laufstrecken von hundert mal zweihundert Metern vorstellen kann. Im Winter 1998/1999 verschwand die Hallig Jordsand von der Landkarte, vereinte sie sich mit der gleichnamigen Sandbank.
Den Elementen preisgegeben, drängen sich in der Welt der Halligen Gedanken zum Größenverhältnis von Natur und Mensch auf, über das Hier und Jetzt, über das kostbare Gut des Augenblicks. Permanenter Schleudergang wirft aus der Bahn, zieht den Boden unter den Füßen fort. Schon im August füllen sich die Supermarktregale mit Spekulatius und Lebkuchen.
Noch immer sind wir wach, lauschen wir dem Crescendo und Decrescendo der Wellen. Der gleich bleibende Rhythmus vertreibt innere Bedrängnisse, den aufgesogenen festländischen Lärm. »Vielheit zerstört die Seele«, mahnten schon die Weisen. Im Einfachen liegt der Schlüssel zum Glück. Das suchen viele Gäste auf Langeneß.
Die Hallig ist neun Kilometer lang und drei Kilometer breit – und mit diesen Dimensionen die größte unter ihresgleichen. Nur zehn der ehemals rund fünfzig Halligen haben die naturgewaltigen Küstendramen überlebt. Fünf Halligen sind heute bewohnt. Darunter Langeneß. Ihre Einwohnerzahl bewegt sich um die hundertdreißig herum. In Form einer Schute wuchs Langeneß durch Buhnenbauten und Landgewinnungsmaßnahmen aus den drei Halligen Nordmarsch im Nordwesten, Butwehl im Süden und Langeneß im Osten zusammen. Nordmarsch lag bis ins 16. Jahrhundert hinein nur einen Steinwurf von Föhr entfernt und gehörte pfarramtlich zu St. Nicolai in Boldixum und St. Johannis in Nieblum. Als sich das Tief zwischen Föhr und Nordmarsch verbreiterte, wurde die Verbindung nur noch wenig genutzt. 1599 baute man daher auf Nordmarsch eine eigene Kirche. Über ein Jahrhundert predigten Pfarrer hier Gottes Wort. Doch als »von Nordwest des Todes gewaltige Fluten« am Kirchhof nagten, riss man die Kirche ab und erwarb für einen Neubau in der Halligmitte ein Gemeindegrundstück. Ein »Ley«, hochdeutsch: Priel, strömte durch dieses »hillige« Land an der Kirche vorbei. Die Wyker Dampfschiffs-Reederei W.D.R. steuert heute vom Festlandhafen Schlüttsiel mit der »Hilligenlei« die Hallig Langeneß an. Auch Hallig Hooge. Aber nicht jeder hat zum Aussteigen Lust, seitdem sich die »Königin der Halligen« mit neunzigtausend Tagesgästen pro Jahr dem Massentourismus verschrieben hat.
Die heutige Kirche von Langeneß entstand 1894 – auf den Fundamenten der Kirche von 1725, die der Kirchwarft ihren Namen gab. Die beiden Taufsteine aus Muschelkalk und Rotsandstein gehen auf früheste Zeiten der Uthlande zurück. Den Flügelaltar stifteten 1670 zwei Langenesser Schiffer. Das Votivschiff schnitzte ein Halligmann 1928 nach einem Fliesenmotiv. Manches Inventar trieb als Strandgut an. Und noch immer werden bei Ebbe Überbleibsel alten Kirchenmobiliars aus dem Schlick gefischt. Bis zur großen Flut von 1634 zählte die Region zweiundzwanzig Kirchspiele. Die Weite der Halligwelt erstreckt sich also nicht nur auf horizontaler Linie, sondern auch auf vertikaler, die in ihre versunkene Vergangenheit führt.
Erstbesucher auf Hallig Langeneß fragen oft, wo denn die Kirche überhaupt sei. Sieht man doch nirgendwo einen Turm. Es gibt auch keinen. Das Gewicht würden die Mauern nicht tragen. Der Halligboden ist zu uneben, bietet zu wenig
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