Lesereise Nordfriesische Inseln
sich wie von selbst. Ihre dunklen Knopfaugen, die uns so sehnsuchtsvoll angucken – bilden wir uns zumindest ein –, wecken Beschützerinstinkte. Kinder vor allem möchten die grausilbrigen Felltiere streicheln, sie drücken und herzen. Doch Vorsicht! Seehunde sind gefährlich, haben große scharfe Zähne, werden bitterböse und beißen, wenn sie sich angegriffen fühlen. Mindestens dreißig Meter Abstand sollte man deshalb zu ihnen wahren, sofern man ihnen am Strand begegnet. Was allerdings nicht allzu häufig geschieht. Denn Seehunde sind scheu, robben sofort ins Wasser, in ihr Element, wenn Vertreter unserer Gattung forsch und ob ihrer Entdeckung womöglich noch laut »Ein Seehund!!« brüllend auf sie zugehen. Auf der Helgoländer Düne allerdings tummeln sich Seehunde seit etlichen Jahren gegenüber der Mole am Südstrand, dicht an dicht mit Kegelrobben, in friedlicher Koexistenz mit den Sommerbadegästen.
Den beiden Säugetieren ist gemein: Sie zählen zur Gruppe der Hundsrobben und haben im Wattenmeer keine natürlichen Feinde – soweit man darunter Meeresbewohner versteht. Beziehen wir Meeresbenutzer mit ein, mithin uns natürliche Zweibeiner, sieht die Sache anders aus. Oder entwickeln sich Schadstoffe im Nordseewasser von allein? Fällt Plastikmüll vom Himmel? Legen Möwen die Ölteppiche aus? Verlieren Seehunde und Kegelrobben durch Wind und Wellen an Lebensraum? Wer hat die Seemooswiesen und Sandwurmriffe kaputt gemacht?
Der »Giftcocktail« im Seehundsspeck lässt Rückschlüsse darauf zu, wo sich die Tiere aufgehalten haben, etwa in der Nähe der Flussmündung der Elbe. Deren Fahrrinne – ein anderes Thema – wird tiefer und tiefer ausgebaggert. Den Containerschiffen im Hamburger Hafen soll es schließlich gut gehen.
Seehunde und Kegelrobben ähneln einander nur aus weiter Ferne. Bei näherer Betrachtung fallen ihre Unterschiede auf: Seehunde sind zierlicher und leichter und bringen im Frühsommer ihre Jungen zur Welt. Diese wiegen um die zehn Kilo und tragen vom ersten Tag ihr Wasser abweisendes Fell. Einen guten Monat laben sie sich an der nahrhaften Milchbar, der Fettgehalt von Seehundsmilch liegt bei fünfundvierzig Prozent. Anfangs noch huckepack auf Mutters Rücken, müssen sie nun selbständig schwimmen und sich allein in weiter Flut zurechtfinden. Kegelrobben sind deutlich massiger als Seehunde, ihre Bullen werden bis zu drei Meter lang und sechs Zentner schwer. Wurfzeit der Kegelrobben ist der Winter, ihre Jungen tragen ein weißes, langhaariges Babyfell. Die Milchbar ist nur drei Wochen geöffnet, doch weil der Fettgehalt der Kegelrobbenmilch dreiundfünfzig Prozent beträgt, setzen die Kleinen rasch an und wechseln ihr Wuschelfell gegen einen wasserdichten »Schwimmanzug« aus. Ab ins Meer, heißt es dann! Ihre kegelförmigen Zähne brachten den Robben ihren Namen ein. Allerdings gibt es auch die Meinung, dass ihre kegelförmige Schnauze Namensgeber war. Wie dem auch sei. Seit Urzeiten in der Nordsee zu Hause, rottete menschliche Schießwut die Tiere bis zum Ende der wilden Zwanziger aus. Um 1960 kehrten die Kegelrobben ins Wattenmeer zurück. Ihre Kolonien haben sie heute im Bereich der Knobsände vor Amrum und Sylt, um Scharhörn und Nigehörn, auf der Kachelotplatte vor Juist und nahe der Insel Terschelling in Holland. Die Population der gefleckten Robben (weibliche haben dunkle Flecken auf hellem Fell, männliche helle auf dunklem Fell) wird hier auf insgesamt zweitausendzweihundert geschätzt.
Seehunde gibt es im Wattenmeer knapp zehnmal so viele. Die älteren unter ihnen, die um die vierzig Jahre alt sind, tragen noch die alte Angst in sich, gejagt zu werden. Bis 1972 war das an der Nordsee der Fall. Sobald an den Helgoländer Landungsbrücken ein Bootsmotor gezündet wurde, so erinnern sich noch manche Börteschiffer, flüchteten die Seehunde instinktiv vom Dünenstrand auf die Seehundsklippen, um sich in Sicherheit zu bringen. Seehundsfleisch mit Kartoffeln kam auf der Hochseeinsel einst zum Mittagessen auf den Tisch. Strandkioske und Souvenirläden verkauften überall an der Küste Seehundsfell-Schlüsselanhänger und Seehundsfell-Portemonnaies. Wintermäntel, Taschen und Stiefel wurden aus Seehundsfell fabriziert. Sprach der Seehund zum Robbenjäger, so Ringelnatz: »Wie ihr Indianer und Neger/ Nicht glücklich für sich leben ließt,/ Stellt ihr uns nach und schießt/ Uns nieder. Für Bettvorleger.«
Mit dem Aufstieg des Bäderwesens Mitte des 19. Jahrhunderts
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