Lesereise Nordfriesische Inseln
vergnügten sich Kurgäste mit Seehundsjagd. Stempelte man die Tiere als »Schädlinge« ab. Warum? Weil sie als »Fischfresser« galten! Tatsächliche Schädlinge und Fischfresser sind längst die Industrie-Fangflotten, die die Meeresböden abrasieren, und der menschliche Appetit, der keine Grenzen kennt. Ein Seeungeheuer müsste all dem ein Ende setzen … Unsere Welt ist völlig verdreht.
1998 und 2002 verendeten fünfundzwanzigtausend Seehunde in der Nordsee. Ein Staupevirus, vermutlich aus einer dänischen Nerzfarm über das Kattegat eingeführt, war der Grund. Gott sei Dank haben sich die Seehundbestände erholt.
Mit Ausflugsschiffen kann man Seehunde wie auch Kegelrobben vom Wasser aus durchs Fernglas beobachten. Die Sonnenanbeter kennen das schon. Absolute Ruhe an Bord ist dennoch oberste Pflicht, wie von den Kapitänen in einer Ansage an die Schiffsgäste unmissverständlich durchgegeben wird, sobald man sich einer »Sonnenbank« nähert.
Den einst Gejagten wird mit Respekt begegnet. Doch was noch immer nicht durchgesickert ist: Finger weg von »Heulern«! Also jenen frisch Geborenen, die am Strand liegen und »heulen«, weil ihre Mutter auf Nahrungssuche ist und sie sich verlassen fühlen. Immer wieder passiert es, dass die Tiere umzingelt, schlimmer noch angefasst oder ins Wasser gescheucht werden. Die Seehundsmutter traut sich dann meist nicht mehr an ihren Nachwuchs heran. Ein sicheres Todesurteil sind Hunde, die einen Heuler abschlecken.
Seehunde können sich aber auch verirrt oder verletzt haben. Die sicherste Erste Hilfe heißt dann in jedem Fall: Sofort einen Seehundjäger oder die Seehundstation in Friedrichskoog benachrichtigen! Wenn alle Stricke reißen, hilft auch der Notruf bei der Polizei. Hauptsache, man hat alle Telefonnummern im Handy oder sonst wo dabei. 2011 verzeichneten die Biologen in Friedrichskoog »Heulerrekord«: neunundachtzig Waisen, doppelt so viele wie sonst im Jahresdurchschnitt, päppelten sie wieder auf und machten sie »stark« für die Freiheit. Ähnlich sieht es in der Seehundstation in Norddeich aus. Aber das ist nicht mehr Nordfriesland.
Im Nebeldunst wie Schiffe am Horizont
Die Welt der Halligen
Wir trauten uns nicht, einzuschlafen. Der Meeresschlag hielt uns wach, ließ uns innehalten, horchen. Nur wenige Meter von der Warft unserer Unterkunft entfernt, schlugen die Wellen an die Halligkante. Doch Land unter würde in dieser Nacht nicht passieren, versicherte man uns schon bei der stürmischen Herbstankunft auf Langeneß. Beruhigend? Bis zu vierzig Mal im Jahr werden die Halligen überflutet, die einen mehr, die anderen weniger. Langeneß trifft es bis zu dreißig Mal im Jahr. Bilder vom düsteren Nebelmann, der seine kalten nassen Netze über die Halligwiesen wirft, schlichen sich in unsere bange Fantasie, Furcht einflößende alte Flutbeschreibungen meldeten sich Zeile für Zeile zurück. »Manch ein fremdes, aus seiner Bahn verschlagenes Schiff segelte schon in solchen Zeiten bei nächtlicher Weile über eine Hallig hinweg«, raunte Johann Christoph Biernatzki, 1821 Prediger auf der Hallig Nordstrandischmoor, »und die erstaunten Seeleute glaubten sich von Zauberei umgeben, wenn sie auf einmal neben sich ein freundliches Kerzenlicht durch die hellen Fenster einer Stube schimmern sahen, die, halb von Wellen bedeckt, keinen andern Grund als diese Wellen zu haben schien.« Die »Halligenflut« im Februar 1825 – bis heute mit dem höchst gemessenen Wasserstand – verwüstete nahezu alle Hallighäuser, riss Schafherden und Kühe in den Tod und weit über neunhundert Halligbewohner. Steindecken und Sommerdeiche schützen inzwischen die »schwimmenden« Wiesen aus Sand, Torf und Schlick, viele Warften, jene künstlich aufgeschütteten Erdhügel, wurden immer wieder erhöht. Land unter indes bleibt, wird mit Orkantiefs immer wieder geschehen wie auf die Nacht der Morgen folgt. Die Langenesser und ihre Hallignachbarn sehen das gelassen, regen sich ohnehin nicht auf. Haben gelernt, mit dem Ausnahmezustand zu leben, die Zeichen nahender Stürme zu entziffern, die Partitur ihrer Melodien zu verstehen.
Ungehalten und fünsch werden die Halligleute darum, wenn man in ihrer Welt von »Inseln« spricht. Denn die über Resten versunkener Marschen und Moore gewachsenen Gebilde, die vom Himmel aus betrachtet wie grüne Tupfer im Meer liegen, sind keine Inseln. Sonst würden sie nicht überspült. Was die Halligen in ihrem Innersten zusammenhält, erkennt man gut an ihren
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